Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergiftet

Vergiftet

Titel: Vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
Vom Netzwerk:
Verräter .
    Vielleicht ist es ja ganz einfach, denkt er. Vielleicht haben diejenigen, die Bjelland suchten, geglaubt, Henning kenne dessen Aufenthaltsort, da er mit ihm geredet hatte. Aber warum sollten sie deswegen seine Wohnung anzünden?
    Vielleicht haben sie ihn zuvor auf andere Weise zu überzeugen versucht, denkt Henning, und sich erst später zu diesem drastischen Schritt entschlossen. Er konnte ja nicht wissen, ob sie wirklich vorgehabt hatten, jemanden zu töten. Vielleicht wollten sie ihm nur drohen und ihn auf diese Weise zur Zusammenarbeit zwingen? Welches Motiv auch immer sie gehabt hatten, sie hätten alle nicht zum Ziel geführt, denn Henning kannte nicht einmal die Identität des Mittelsmannes, der über eine nicht zurückverfolgbare E-Mail-Adresse Kontakt mit ihm aufgenommen hatte.
    Henning sucht seinen damaligen Artikel aus dem Internet heraus. Der Beitrag war nicht schlecht. Er hatte ein gutes Foto von Bjelland gemacht, von hinten, wie er über den Oslofjord blickt. Mit einer Kapuze auf dem Kopf. Geheimnisvoll und schön. Für einen nicht Eingeweihten bot der Artikel Details, die bis dahin unbekannt waren. Der Artikel weckt in Henning die Erinnerung, wer er – vor Jonas – gewesen ist. Henning liest es aus seiner eigenen Sprache heraus, entnimmt es der zielstrebigen Jagd nach der Story.
    Eine neue Recherche über Bjelland bleibt ergebnislos. Vielleicht ist sein Antrag genehmigt worden, denkt Henning. Rasmus Bjelland kann sich heute überall in Norwegen befinden und inzwischen komplett anders aussehen. Ihn erneut in die Finger zu kriegen, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein. Vermutlich würde es aber auch keinen Sinn ergeben.
    B-Gang oder Schwedenliga, denkt Henning. Von den Schweden sind nicht mehr viele in Oslo. Aber auch bei der B-Gang kann er nicht einfach anklopfen und sie fragen, ob sie dafür verantwortlich sind, dass ein sechsjähriger Junge bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen ist. Er muss sich ihnen auf andere Weise nähern. Aber wie?
    Die Antwort liegt auf der Hand, auch wenn sie Henning ganz und gar nicht gefällt.
    Tore Pulli.
    44
    Bevor Thorleif das Auto aufschließt, bleibt er stehen und sieht sich um. Oben in der Bygdøy allé rasen Autos und Busse vorbei. Menschen laufen langsam über den Zebrastreifen, aber niemand biegt in die Nobels gate und kommt auf ihn zu. Mit zitternden Händen öffnet er die Tür und setzt sich hinein. Er blickt in den Rückspiegel. Sieht niemanden.
    Er holt tief Luft, lässt den Motor an und fährt in Richtung Osloer Zentrum, wo er in der Kirkegaten einen freien Parkplatz findet. Die Motorengeräusche sind gerade verstummt, als es auf der Windschutzscheibe knallt. Er zuckt zusammen und schreckt auf, sieht aber nur einen Mann mit Jogginghose und weißem T-Shirt, der sich langsam vom Wagen entfernt.
    Dann bemerkt Thorleif den gelben Post-it-Zettel, der an der Scheibe klebt. Er steigt aus, während er dem Mann nachblickt und ihn hinter der nächsten Ecke verschwinden sieht, ohne dass er sich noch einmal umgedreht hätte. Thorleif reißt den Zettel ab und liest:
    Oslo Domkirche, fünf Minuten.
    Eine Welle der Panik durchspült ihn und raubt ihm den Atem. Jetzt geht es also wieder los. Er beugt sich vor und stützt sich auf die Motorhaube, um nicht die Kontrolle zu verlieren. So bleibt er eine Weile stehen, ehe er sich hochdrückt und tief durchatmet. Er läuft die Kirkegaten hinunter in Richtung Domkirche, deren Turm mit der grünen Spitze in den Himmel ragt. Seine Schritte sind verhalten und vorsichtig, als hoffte er, sie mögen ihn nicht zu seinem Henker führen, sondern in Sicherheit. Thorleif hebt den Kopf und sieht die entgegenkommenden Fußgänger an, versucht, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber niemand erwidert seine Blicke. Ich bin ganz auf mich allein gestellt, denkt er. Nur ich kann jetzt noch etwas tun.
    Er überquert die Karl Johans gate und geht, den Tränen nahe, weiter in Richtung Domkirche. Die Tür zum Kirchenraum steht offen. Er tritt in das kalte Dunkel und wird von der Stille eingehüllt, die hier immer herrscht.
    Es ist nur ein leises Murmeln zu hören. Finger zeigen zu den Kirchenfenstern und an die Decke, während er auf seine Uhr blickt. In fünf Minuten sollte er bei der Arbeit sein. Er flucht innerlich, reißt sich aber gleich darauf mit schlechtem Gewissen zusammen. Da nimmt er hinter sich den Geruch von Leder wahr. Thorleif dreht sich um und sieht in ein ernstes Gesicht. Dasselbe Gesicht, das er tags zuvor

Weitere Kostenlose Bücher