Vergiftet
ist sachlich und ernst, wie immer, wenn er sie um ein Zitat bittet, das er verwenden darf. Henning spult sich durch einen Fall, bei dem es um Übergriffe auf Schulkinder ging, ehe ihm bewusst wird, dass er diese Kassette mindestens ein Jahr vor Jonas’ Tod aufgenommen hat. Er sucht sich einen Folienschreiber und markiert die Kassette mit einem dicken schwarzen Kreuz, bevor er die nächste einlegt.
Es wird eine lange Nacht werden.
43
Das Gefühl, unmittelbar bevor man sich übergeben muss, ist am schlimmsten, wenn der Magen bereits weiß, dass er sich zusammenziehen wird und diesem Prozess mit aller Macht entgegenzuwirken versucht. Es lässt sich aber nicht zurückhalten und kommt so plötzlich, dass Thorleif sich nach vorn über die Kloschüssel werfen muss, während sein Magen das wenige, das sich darin befindet, herauswürgt. Sein ganzer Bauch krampft sich zusammen, mehrmals, bis nichts mehr aus seinem Mund kommt.
Er hustet ein paarmal, spuckt aus und lässt den Schleim mit geschlossenen Augen aus Mund und Nase rinnen. Beißender Geruch steigt ihm in die Nase, und hinter seinen Lidern quellen Tränen hervor. Thorleif steht auf, putzt sich die Nase und spült. Das Geräusch des Wassers wird von den Wänden zurückgeworfen und mischt sich mit dem Gedanken- und Gefühlschaos in seinem Kopf. Unter ihm ringen seine Beine mit dem Gewicht seines Körpers. Er taumelt zum Waschbecken und dreht den Wasserhahn auf.
Thorleif denkt daran, dass er sich noch tags zuvor mit vorgeschobener Übelkeit krankgemeldet hatte. Aus der Notlüge ist im Laufe eines Tages bittere Wahrheit geworden. Wird er es schaffen, zur Arbeit zu gehen?
Er wäscht sich das Gesicht, bleibt stehen und starrt im Spiegel auf das Wasser, das ihm aus den Augenbrauen und Bartstoppeln tropft. Du hast es nicht geschafft, jemanden zu überfahren. Du wirst es niemals schaffen, jemanden zu töten. Allein der Gedanke reicht, dass er wieder sauer aufstößt und sich erneut vor das Klo kauert. Der Geruch verstärkt den Brechreiz obendrein. Aber es kommt nur Schleim. Speichel und Schleim. Er bleibt auf den Knien hocken und spuckt aus.
Irgendwann steht er wieder auf, wäscht sich das Gesicht aufs Neue und sieht auf die Uhr. Halb sechs. In viereinhalb Stunden ist Dienstbesprechung.
Du musst dich zusammenreißen.
Gegen drei Uhr ist Henning ins Bett gegangen, und dieses Mal hat Jonas ihn nicht heimgesucht. Nach ein paar Stunden Schlaf wacht er vom Klingeln des Telefons auf, aber als er abnimmt, meldet sich niemand.
Henning nimmt einen Schluck aus der warmen Coladose und zieht die Gardinen auf. Dann geht er in die Küche und gießt einen Rest Kaffee aus der Thermoskanne in eine Tasse und stellt sie in die Mikrowelle. Während er darauf wartet, dass der Kaffee heiß wird, blickt er zu den Kassetten, die auf dem Küchentisch liegen. Sechs davon haben große schwarze Kreuze. Der Block daneben ist voller Namen und Notizen, aber nichts davon lässt sein Herz schneller schlagen.
Die Mikrowelle piepst. Henning nimmt die Tasse heraus und trinkt vorsichtig einen Schluck. Dann nimmt er wieder am Tisch Platz und setzt den Kopfhörer auf. Mit langsamen, schläfrigen Bewegungen legt er die siebte Kassette ein und drückt auf Play . Er hört seine eigene Stimme. Langweilige Fragen. Nichtssagende Antworten. »Haben Sie eine Idee, was das Motiv sein könnte?« Spulen, spulen, spulen. Er trinkt einen Schluck und drückt wieder auf Play . »Wie wollen Sie in diesem Fall weiter vorgehen?« Neuerliches Spulen, bevor er das Band weiterlaufen lässt. Er hört eine Männerstimme: »… bringen sie mich um.«
Henning hebt den Kopf und spult zurück an den Anfang des Satzes. »Es ist lebensgefährlich für mich, Sie zu treffen. Wenn sie mich finden, bringen sie mich um.« Henning drückt wieder auf Stopp.
Das ist Rasmus Bjelland, denkt er und verbindet schnell ein Gesicht und einen Fall mit der Stimme. Nach einer kurzen Internetrecherche sind ihm auch die Details des Falls wieder präsent.
Bjelland wurde Anfang der Neunzigerjahre wegen Drogenschmuggels verurteilt und bekam eine lange Strafe von sieben oder acht Jahren. Als er wieder frei war, versuchte er sich ohne viel Erfolg als Schreiner. Die Firma, die er eröffnete, Bjelland Bau & Wohnen , war schon nach anderthalb Jahren pleite.
Wie viele andere Konkursritter jener Zeit wanderte Bjelland nach Brasilien aus, genauer gesagt nach Natal, einem schmucken Ort an der Atlantikküste mit gut achthunderttausend Einwohnern. Im Frühjahr
Weitere Kostenlose Bücher