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Vergiftet

Vergiftet

Titel: Vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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Die Stimmen verwischen. Unter ihm kommt das Gras immer näher. Eine Ameise krabbelt über seine Hand, will unter die Haut, aber Henning schüttelt sie ab und steht auf. Schwankend. Der erste Schritt ist mühsam, jeder weitere noch schlimmer. Er wendet sich von der Sonne ab, lässt sie sich in den Nacken brennen. Weitergehen. Geländer, Geländer, wo bist du? Teerbelag. Der Luftzug eines Fahrrads, das in rasantem Tempo an ihm vorbeirauscht, streift ihn, als ein neuer, scharfer Schmerz sich unter der einen Fußsohle meldet. Es ist nass, wo er hintritt.
    Dicht neben ihm hüpft etwas.
    »He!«
    Henning zuckt zusammen und hebt langsam den Kopf.
    »Halten Sie den Ball!«
    Er streckt den schmerzenden Fuß, sieht etwas dagegenstoßen und liegen bleiben. Schritte, die näher kommen. Henning hält den Ball unter dem Fuß fest. Vor ihm bleibt ein Junge mit langem blondem Haar stehen. Eisblaue Augen. Er kommt ihm bekannt vor.
    »Danke«, sagt der Junge, acht Jahre, neun vielleicht. »Kann ich ihn wiederhaben?«, fragt er.
    Henning sieht ihn an. »Wie heißt du?«, hört er sich selbst sagen.
    »Fredrik.«
    Henning macht einen Stützschritt zur Seite, versucht, die Augen des Jungen zu fixieren, schafft es aber nicht. Stattdessen rollt er dem Jungen den Ball zu, der Junge kickt ihn mit der Fußspitze hoch und fängt ihn mit den Händen. Um ihn gleich darauf wieder fallen zu lassen.
    »Igitt, da ist ja Blut dran!«
    Der Ball hüpft wieder, Henning versucht, ihn mit dem Blick einzufangen, hat aber keine Chance. Dann registriert er, dass der Junge wegläuft. Der brennende Schmerz unter seinem Fuß wird stärker. Er schaut an sich hinab. Und bemerkt erst jetzt, dass er Pantoffeln trägt.
    Zugfahren hatte für Thorleif schon immer etwas Friedvolles. Normalerweise findet er es unendlich beruhigend, aus dem Fenster zu starren, während die Welt an ihm vorbeirast. Hebt er den Blick, steht sie fast still. Das hat ihn schon immer fasziniert. Aber heute nicht.
    Heute hat er keinen Sinn für die Landschaft, durch die er fährt. Er schließt die Augen und versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Ein sinnloses Unterfangen, denn immer wieder erlebt er, was er getan hat. Tore Pullis Körperbehaarung unter seinen Fingerkuppen, als er ihm das Mikrofon unter dem engen T-Shirt feststeckt. Die Nadel an der Handinnenseite, kalt und glatt. Pullis überraschten, beinahe empörten Blick, als er … Diesen Ausdruck wird er nie wieder loswerden.
    Die Konsequenzen mag Thorleif sich gar nicht ausmalen. Was werden sie alle von ihm denken? Nicht zuletzt die Kinder? Elisabeth wird ihnen sicher erzählen, dass er einen Auslandsauftrag bekommen hat und sie nicht weiß, wie lange er weg sein wird. Aber wie lange wird sie die beiden mit dieser Lüge überzeugen können? Pål ist acht und ein cleverer Bursche. Er wird schnell begreifen, dass etwas nicht stimmt. Ich muss ihr irgendwie mitteilen, dass ich lebe, denkt Thorleif, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Aber wie soll er das anstellen, wenn ihre Wohnung tatsächlich überwacht wird und sie auch Elisabeths Handy abhören? Das ist zu riskant, denkt Thorleif. Sie dürfen auf keinen Fall glauben, dass Elisabeth weiß, wo er ist.
    Verdammt, was kann er bloß tun?
    Vielleicht ist sie noch bei der Arbeit. Er könnte in der Zentrale anrufen und fr…
    Verdammt, sein Handy ist ja weg. Er sieht sich im Wagen um. Um ihn herum sind mehrere Mitreisende mit ihren Telefonen beschäftigt. Soll er einen von ihnen fragen, ob er sich sein Handy kurz mal leihen darf? Er schiebt den Gedanken schnell beiseite. So ein Gespräch muss er ungestört führen, und kein Mensch würde sein Telefon jemandem geben, der dann zum Telefonieren weggeht, um allein zu sein. Das Beste wird es sein, bis nach dem Aussteigen zu warten und eine Telefonzelle zu suchen.
    Wenn er Elisabeth erreichen will, bevor sie nach Hause geht, muss er sich beeilen. Soll er bis zur Endstation fahren oder besser unterwegs aussteigen, an einem kleineren Ort? Der Vorteil wäre, dass man dort weniger Leuten begegnen würde. Andererseits wäre es sicher auch einfacher für seine Verfolger, ihn in einem Kaff zu finden, falls sie hinter ihm her sind.
    Thorleif bleibt sitzen und starrt auf die Werbung über einer Gepäckablage weiter vorn. Er sieht die Bilder, liest den Text. »Erfüllen Sie sich Ihren Hüttentraum«. Unter dem Text ist ein Panoramabild mit Bergen und Hochebene, weiß, schön und schroff, mit kleinen, dunklen, einzeln liegenden Hütten.

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