Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vergiftet

Vergiftet

Titel: Vergiftet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
Vom Netzwerk:
Darunter steht » USTAOSET« wie der Titel eines Films, in dem das winterliche Norwegen die Hauptrolle spielt.
    Thorleif muss an Einar Fløtaker denken, seinen Freund aus Kindertagen, zu dem der Kontakt abgerissen ist, als sie beide Kinder bekommen haben. Thorleif erinnert sich aber noch an die Hüttentour, die sie vor vielen, vielen Jahren nach Ustaoset geführt hat, in Einars Hütte. Das war damals mitten im Winter; Thorleif weiß noch, dass es bei ihrer Ankunft bitterkalt gewesen ist, minus dreißig Grad. Vom Bahnhof bis zur Hütte war es ein ordentliches Stück zu laufen gewesen, voll bepackt mit Tragetaschen und Skiausrüstung. Drinnen war es zwölf Grad unter null gewesen, bevor sie Feuer machten, doch erst am nächsten Tag konnten sie ihre Wintersachen ausziehen.
    Diese Hütte gibt es bestimmt noch, denkt Thorleif. Da ist jetzt sicher keiner.
    51
    Jemand bleibt vor ihm stehen. Henning sieht blinzelnd nach oben und erblickt rote Shorts und einen nackten Oberkörper. Gunnar Goma lächelt ihn an.
    »Warum sitzt du denn hier?«, fragt der Nachbar ebenso munter wie ungläubig. Henning blickt sich um. Er ist im Treppenhaus seines Hauses und lehnt schräg an der Wand.
    »Ich … ha… habe keine Ahnung«, antwortet er.
    Er fühlt sich wie mitten in einem Wachtraum. Oder ist es ein Traum? Nein, sonst hätte er nicht diese Schmerzen unter den Füßen.
    »Wie lange sitzt du hier denn schon?«
    »Das … weiß ich auch nicht.«
    Ihre Stimmen hallen hohl von den Wänden wider.
    »Ich wollte nur kurz rausgehen, und da habe ich dich hier liegen sehen. Ich dachte, du wärst tot!«
    Henning versucht aufzustehen. Wieder schießt ein Schmerz durch seinen Fuß.
    »Aber wie ich sehe, bist du bloß in ein oder zwei Glassplitter getreten.«
    »Wie spät ist es?«, fragt Henning und stöhnt auf.
    »Wie spät? Keine Ahnung, die Uhrzeit interessiert mich nicht mehr. Für mich ist nur wichtig, ob es hell oder dunkel ist, warm oder kalt. Ist man erst mal so alt wie ich, hat der Rest keine Bedeutung mehr.«
    »Hm.«
    Henning versucht, noch einmal aufzustehen, aber das Geländer ist zu weit entfernt.
    »Hast du oben bei dir was zum Desinfizieren?«, fragt Goma.
    »Ich glaube schon.«
    »Okay, hier kannst du jedenfalls nicht liegen bleiben, nimm meine Hand.«
    Henning sieht zu ihm auf.
    »Nimm meine Hand«, wiederholt Goma.
    Henning findet sein Gesicht, seine Augen und erkennt darin eine Entschlossenheit, einen Ernst, den er so noch nie gesehen hat. Er hätte nicht gedacht, sich einmal von einem herzkranken Sechsundsiebzigjährigen mit bloßem Oberkörper die Treppe hinaufhelfen lassen zu müssen. Trotzdem streckt er gehorsam die Hand aus und rappelt sich auf. Er fühlt sich, als hätte er getrunken. Schritt für Schritt gehen sie nach oben. Goma keucht. Die alte Hand ist rau und voller Schrunden. Arbeiterhände, denkt Henning.
    Dann sind sie oben. Henning fischt die Schlüssel aus seiner Tasche, schließt auf und lässt sich in den Flur helfen. Er bleibt stehen und sieht zu der Klappleiter und dem Rauchmelder, ehe sein Blick wieder zu Goma wandert.
    Nein, denkt Henning, das musst du allein machen.
    Er bedankt sich für die Hilfe.
    »Keine Ursache«, sagt Goma.
    Henning senkt den Blick. »Sorry, ich habe irgendwie keine Ahnung, was … was da mit mir … passiert …«
    Goma hebt die Hände. »Mach dir darüber keine Gedanken. Wir haben alle irgendwann unsere Aussetzer. Ich bin einmal zu mir gekommen, als ich unten im Zentrum gerade in die Kondomerie gehen wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich dahin gekommen bin.«
    »Wirklich?«
    »Ja. Aber da ich schon mal da war, bin ich auch reingegangen und …«
    »Hm«, unterbricht Henning ihn und hebt die Hand. Ein langer Augenblick der Stille folgt, in dem sie sich nur ansehen.
    »Hast du Lust auf einen Kaffee?«, fragt Henning.
    »Nein danke, aber nett von dir, ich wollte gerade runter, um mir im Sultan Tomaten zu kaufen.«
    »Dann ein anderes Mal.«
    »Gerne.« Goma sieht ihn lange an. »Jau, jau, ich sollte jetzt los. Und geh es mit Ruhe an, ja?«
    »Ja, klar.«
    52
    Es ist kurz nach fünf, als Thorleif mit unsicheren Schritten den Bahnhof von Ustaoset verlässt. Er bleibt stehen und sieht sich um. Das Bergmassiv zu seiner Rechten muss der Hallingskarvet sein. Der Gipfel des Berges ist umkränzt von einem Ring samtweicher Wolken. Willkürlich im Gelände platziert sieht er zahlreiche große und kleine Hütten in den unterschiedlichsten Farben. Vor ihm ragt das Gebirgshotel in die Höhe. Es

Weitere Kostenlose Bücher