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Vergiss die Toten nicht

Vergiss die Toten nicht

Titel: Vergiss die Toten nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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öffnete, raubte ihr ein Schwall Salzwasser den Atem. Und die Strömung, die sie immer weiter hinauszog, war so stark, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte.
    In ihrer Verzweiflung drehte sie sich auf den Rücken und ließ die Arme schlaff herabhängen. Doch schon kurz darauf begann sie wieder, sich gegen den schrecklichen Sog zu wehren, der ihren Körper immer weiter fort von der Küste trug, wo niemand ihr würde helfen können.
    Ich will nicht sterben, sagte sie sich. Ich will nicht sterben.
    Eine Welle hob sie empor und spülte sie weiter hinaus. »Hilfe!«, wimmerte sie wieder und brach dann in Tränen aus.
    Und dann, so plötzlich, wie es angefangen hatte, war es auch wieder vorbei. Von einem Moment auf den anderen gaben die unsichtbaren Ketten sie frei, und sie musste die Arme bewegen, um nicht unterzugehen. Offenbar war es das, was die Hotelpagen gemeint hatten, dachte sie. Sie war über die Springtide hinausgetrieben worden.
    Du darfst nicht wieder hineingeraten, nahm sie sich vor.
    Schwimm darum herum.
    Aber sie war so entsetzlich müde. Das Ufer war zu weit entfernt. Nell blickte zur Küste hinüber. Niemals würde sie dort ankommen. Die Augen fielen ihr zu. Das Wasser fühlte sich so warm an wie eine Decke. Sie wurde schläfrig.
    Schwimm, Nell, du schaffst es!
    Das war die Stimme ihrer Mutter, die sie anflehte, nicht aufzugeben.
    Los, Nett!
    Der strenge Befehl ihres Vaters rüttelte sie auf und riss sie aus ihrer Teilnahmslosigkeit. Gehorsam paddelte Nell noch ein Stückchen hinaus und umschwamm dann die Springtide in einem großen Bogen. Obwohl sie bei jedem Atemzug aufschluchzte und ihre Arme bleischwer waren, hielt sie durch.
    Quälende Minuten später ließ sie sich erschöpft von einer großen Woge in Richtung Ufer tragen. Die Welle schwoll an, brach in sich zusammen und spülte Nell an den harten, feuchten Strand.
    Zitternd und bebend rappelte sie sich auf. Sie spürte, wie kräftige Hände sie auf die Füße zogen. »Ich wollte dich gerade rufen«, sagte Cornelius MacDermott gereizt. »Für heute ist Schluss mit Schwimmen, junges Fräulein. Gerade wurde die rote Flagge gehisst. Offenbar gibt es hier in der Nähe Springtiden.«
    Nel , die keinen Ton herausbrachte, konnte nur noch nicken.
    Mit besorgter Miene zog MacDermott seinen Bademantel aus und legte ihn Nell um die Schultern. »Du bist ja ganz ausgekühlt, Nel . Du hättest nicht so lange im Wasser bleiben sollen.«
    »Danke, Opa, alles in Ordnung.« Nel beschloss, ihrem geliebten Großvater ihr Abenteuer zu verschweigen. Außerdem brauchte er nicht zu erfahren, dass sie wieder einmal mit ihren Eltern in Kontakt getreten war. Denn der ausgesprochen pragmatische MacDermott hätte das nur barsch als die Hirngespinste eines jungen Mädchens abgetan.

    Siebzehn Jahre später
    Donnerstag, 8. Juni

1
E
    ilig machte sich Nell auf den Weg von ihrer Wohnung an der Ecke Park Avenue und 73. Straße zum Büro ihres Großvaters, Ecke 72. Straße und York Street. Da er sie so dringend zu sich beordert und auf ihr pünktliches Erscheinen um drei Uhr gepocht hatte, vermutete sie, dass sich die Krise um Bob Gorman zugespitzt hatte. Und deshalb freute sie sich nicht unbedingt auf die bevorstehende Sitzung.
    Da sie tief in Gedanken versunken war, bemerkte sie die bewundernden Blicke nicht, die einige Passanten ihr zuwarfen.
    Schließlich waren sie und Adam glücklich verheiratet. Allerdings wusste Nel , dass viele Menschen sie attraktiv fanden. Sie war hoch gewachsen, schlank und hatte eine sportliche Figur. Ihr kurzes, kastanienbraunes Haar wellte sich in der feuchten Luft, ihre Augen waren dunkelblau, und sie hatte einen hübsch geschwungenen Mund. Als junges Mädchen hatte Nell ihren Großvater häufig auf Empfänge begleitet, doch zu ihrem Kummer hatten die Medien sie immer nur als »aparte Erscheinung« bezeichnet.
    »Apart – das ist so, als würde mir ein Mann sagen, dass es ohnehin nur auf die inneren Werte ankommt. Es klingt so gönnerhaft. Nur einmal möchte ich, dass man mich ›schön‹,
    ›elegant‹, ›hinreißend‹ oder einfach nur ›chic‹ nennt«, hatte sie mit zwanzig geklagt.
    Und ihr Großvater hatte wie immer darauf erwidert: »Sei um Himmels willen nicht so albern. Du solltest dich freuen, dass du Verstand mitbekommen hast und weißt, wie man ihn einsetzt.«
    Leider wusste Nell genau, worüber ihr Großvater heute mit ihr sprechen wollte, denn er würde von ihr verlangen, dass sie besagten Verstand in seinem Sinne benutzte. Seine

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