Vergiss mein nicht (German Edition)
in die Gegenwart des Zugabteils zurück. Draußen rauscht die nasskalte deutsche Januarlandschaft vorbei. Ich bin unterwegs nach Frankfurt am Main, wo mich früher meine Mutter immer vom Bahnhof abholte. Meine ältere Schwester, die mir auf die Mailbox gesprochen hatte, ist am Telefon. Sie berichtet, dass die Lage zu Hause seit gestern Nacht relativ stabil sei. Sie könne selber leider nicht kommen, da sie in Arbeit ertrinke und sich um ihre Tochter kümmern müsse. Ich erzähle ihr von meinem Traum, in dem Gretel wieder laufen konnte und eine Treppe herabstürmte. Sie ist ganz perplex, denn auch sie hat von Gretel geträumt. Auch in ihrem Traum konnte sie wieder laufen. Sie ging auf einem Wanderweg flink vorneweg, meine Schwester und der Rest der Familie hinterher. Das Gelände war leicht abschüssig, und der Weg endete am Steilhang einer dunklen Lehmgrube. Gretel lief immer schneller auf den Abgrund zu, wendete sich dann noch einmal um und rief: »Ich bin die Erste!«
Dann verschwand sie in der Untiefe.
Kapitel 2
Film ohne Ende
Parallel zu den Dreharbeiten meines Debütfilms David wants to fly , die sich über mehrere Jahre hinzogen, entwickelte meine Mutter immer deutlichere Anzeichen einer Demenz. Es wurde schwerer, ihr zu erklären, woran ich da gerade arbeitete. Die Handlung meines Dokumentarfilms war schon für Nicht-Demente verwirrend genug: Ich hatte mich als Regisseur und Protagonist vor der Kamera einer ziemlich abgehobenen Meditationsbewegung angeschlossen, deren Gründer, ein gewisser Maharishi Mahesh Yogi, Ende der 60er-Jahre als Guru der Beatles weltberühmt geworden war.
Meine Mutter fand es, schon bevor sich ihre Verwirrung zeigte, schwer nachvollziehbar, warum ich mich einer religiös anmutenden Organisation anschloss, die einem indischen Guru huldigte. »So was macht doch bei uns keiner«, sagte sie befremdet. Sie hatte mich autoritätskritisch erzogen, war aus der Kirche ausgetreten und Esoterik lag ihr fern. »Wie geht es deinem Gurishi?«, fragte sie mich, nachdem wir 2008 die Beisetzung des gerade verstorbenen Maharishi in Indien gedreht hatten.
Bei der Premiere von David wants to fly auf der Berlinale 2010 konnte sich meine Mutter schon gar nicht mehr erklären, was ihr Sohn da auf der Leinwand verloren hatte. Sie blieb zwar während der ganzen Dauer des Films aufmerksam im Saal sitzen, aber als wir uns nach dem Film vor dem Kinobegrüßten, fragte sie mich ganz verwundert: »Was machst du denn hier?«
Sie hatte schon wieder vergessen, dass ich gerade noch vor einem bis auf den letzten Platz gefüllten Kinosaal als Regisseur und Autor des Films vorgestellt worden war und Publikumsfragen beantwortet hatte. Sie wusste jedoch instinktiv, dass hier etwas Wichtiges für einen ihrer »Wichtigsten« geschehen war und flüsterte mir zu: »Du hast Glück.«
Doch leider war das Glück nicht von Dauer! Bald nach der glanzvollen Premiere herrschte gähnende Leere auf meinem Konto, und ich musste mir dringend ein neues Filmprojekt suchen. Gleichzeitig merkte ich, wie die Situation zu Hause meinem Vater über den Kopf wuchs. »Ich komme mit der Frau nicht klar«, sagte er mir resigniert am Telefon.
Meinen Geschwistern und mir fiel es nicht leicht, meine Eltern zu unterstützen. Wir sind alle berufstätig und wohnen über Deutschland verstreut. Zudem haben meine beiden sieben und zehn Jahre älteren Schwestern eigene Kinder. Auch meine Filme sind extrem hungrige Zeitfresser, die sehr viel Aufmerksamkeit und Zuwendung brauchen, bis sie endlich alleine ›laufen‹ können. Während der jahrelangen Arbeit an meinem Debütfilm hatte ich sehr wenig Zeit für meine Eltern, und ich fragte mich, wie ich das beim nächsten Projekt ändern könnte. Ließen sich nicht Beruf und Familie verbinden, indem ich einen Film über meine Mutter drehte? So könnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits hätte ich die Chance, mich intensiv um Gretel zu kümmern, andererseits könnte ein Film entstehen, der für meinen Lebensunterhalt sorgte. Der Plan klang verführerisch, und mein Vater war einverstanden. Aber ich musste zunächst herausfinden, wie meine Mutter reagieren würde.2010 reisten mein Kameramann und ich für einen Probedreh zu meiner jüngeren Schwester nach Darmstadt. Jedes Jahr zu Ostern veranstaltet sie ein großes Fest mit Freunden und Familie. Gretel war unter den zahlreichen Gästen und der Schar von Kindern recht verloren und hielt sich eng an meinen Vater. Der war allerdings heilfroh,
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