Vergiss mein nicht (German Edition)
während ich mit Kopfhörer und der sperrigen Tonangel in der Hand versuchen musste, mich aus ihrer Umarmung zu befreien.Wir wurden mit der Zeit erfindungsreicher. So wollten wir zum Beispiel einmal filmen, wie meine Mutter in einer Demenz-Tagesstätte zurechtkam. Ich stattete Gretel mit einem Funkmikrofon aus und versteckte mich mit Empfänger und Aufnahmegerät im Nebenraum, damit mein Anblick nicht ihre mütterlichen Gefühle weckte. So saß ich den halben Tag in einer kleinen, dunklen Besenkammer – meinen Traumberuf als Regisseur hatte ich mir etwas anders vorgestellt!
Bei Interviews drehte Gretel oft den Spieß um und begann, mir die Fragen zu stellen:
»Was machst denn du zur Zeit gerade?«
»Na, jetzt mach’ ich gerade einen Film.«
»Und muss ich da auch wieder irgendwas?«
»Du musst nichts Besonderes machen. Du bist einfach drin.«
»Das ist wirklich interessant. Und wie weit bist du jetzt? Musst du das dann an einer Stelle aufhören oder wie ist das?«
»Na, ich filme erst eine Weile lang, und dann muss ich sehen, was daraus wird. Ich bin noch lange nicht fertig.«
»Was du machst, das würd’ ich alles gerne machen, wirklich. Irgendwann möcht’ ich mal sehen, was du da gemacht hast.«
Meine Mutter wäre nie auf die Idee gekommen, dass aus mir mal ein Filmemacher werden würde, aber sie hat meine Laufbahn, so lange sie konnte, tatkräftig unterstützt. Früher machte sie sich große Sorgen, ob ich in der unsicheren Filmbranche auch meinen Lebensunterhalt würde verdienen können. Leider setzte ihre geistige Verwirrung genau zu dem Zeitpunkt ein, als ich begann, finanziell auf eigenen Füßen zu stehen. Sie wäre bestimmt stolz auf meine beruflichen Erfolge gewesen, wenn sie sie noch hätte begreifen können. Alsich die monatlichen Überweisungen von zu Hause nicht mehr brauchte, rief sie eine Zeit lang immer zum Monatswechsel an, um zu fragen, wie viel Geld sie mir schicken sollte. Jedes Mal erklärte ich ihr, dass das jetzt nicht mehr nötig sei und hatte oft das Gefühl, sie zu enttäuschen. Ironischerweise schaffte sie es durch ihre Demenz dann schließlich doch noch, mir finanziell unter die Arme zu greifen, indem sie der Inhalt meines Films wurde.
Als wir vor knapp einem halben Jahr den Hauptteil der Dreharbeiten abgeschlossen hatten, fuhr ich nach Berlin zurück. Meine Unterstützung war zu Hause auch nicht mehr so nötig, da sich die Situation mit einer festen Pflegekraft bei meinen Eltern mittlerweile gut eingependelt hatte.
Beim Schneiden des Materials zeigte sich, wie schwierig es war, Aufnahmen meiner Mutter aus verschiedenen Zeitabschnitten der letzten Jahre zu mischen. Ihre Demenz schritt derart schnell voran, ihr geistiger und körperlicher Zustand veränderte sich so stark, dass sich schon bei ein paar Wochen Zeitunterschied deutliche Anschlussfehler ergaben.
Nach zwei Monaten Schnitt fiel uns auf, dass dringend noch pressetaugliche Fotos gebraucht wurden. Mein Kameramann, der auch als Fotograf arbeitet, reiste bei nächster Gelegenheit mit mir zu meinen Eltern. Dort wurde uns klar, dass es schwierig war, eine Gretel zu fotografieren, die noch zu der Gretel passte, die wir im Sommer zuvor gefilmt hatten. Den größten Teil des Tages saß meine Mutter apathisch herum und war nicht ansprechbar. Mit Mühe und Not gelang es uns, für ein paar Aufnahmen eine wache, lächelnde Gretel einzufangen, aber ihre lichten Momente waren auf die Dauer eines Schnappschusses zusammengeschrumpft.
Als wir beim Abendessen saßen, entdeckte ich an ihrem Handgelenk einen Bluterguss, der sich bis über ihren Ellenbogen hinaufzog. Die Pflegerin erklärte, Gretel sei vom Stuhl gefallen als sie beim Essen schlagartig eingeschlafen war.
Bei meinem nächsten Besuch saß sie schon im Rollstuhl. Musste ich diese bestürzende Entwicklung nicht noch in meinen Film mit aufnehmen?
Als ich Anfang des Jahres von meinem Vater erfuhr, dass Gretel wohl nicht mehr lange leben würde, hatten wir eigentlich schon seit einem halben Jahr abgedreht und seit einem Monat den Schnitt abgeschlossen. Der Film endete jetzt mit einer Reise meiner Eltern nach Hamburg, die sie letzten Sommer unternommen hatten, um den Ort zu besuchen, an dem sie sich einst verliebt hatten.
Am liebsten hätte ich die Zeit da angehalten.
Doch solche romantischen Happy Ends gibt es leider nur in Hollywood.
Kapitel 3
Die letzte Lasagne
Meine Mutter hatte eine hohe Meinung von mir. Um meinen zwölften Geburtstag herum sprachen wir über
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