Vergiss mein nicht (German Edition)
Ecuador ging, hatte ich mich an eine Schuluniform gewöhnen müssen. Die passte zwar nicht richtig und war kratzig, aber rückblickend fand ich das weitaus weniger schlimm als die hemmungslose Markenorgie auf dem Gymnasium in Bad Homburg. Grundsätzlich leuchtete mir ein, dass meine Mutter dem Preis-Leistungsverhältnis eines Flohmarktes den Vorzug gab, aber der Überfluss an teurer Ware bei meinen Mitschülern und deren völlige Verknappung bei mir führten zu einer übersteigerten Sehnsucht. Manchmal lief ich stundenlang durch die Fußgängerzone und spähte in den Schaufenstern nach den ersehnten Kleidungsstücken mit den verheißungsvollen Logos. In einer Auslage entdeckte ich eines Tages eine grüne Jacke, die ich unbedingt haben wollte. Meine Mutter ließ sich erweichen und kam mit, um das Objekt der Begierde näher in Augenschein zu nehmen: »Die sieht ja aus wie eine Polizeijacke!«, urteilte sie. Damit war die Sache für sie erledigt.
Das fand ich nicht fair: Zwar wollte sie, dass ich Richter werde, aber wie ein Polizist durfte ich nicht herumlaufen? Stattdessen kaufte sie mir beim nächsten Flohmarkt die besagte grüne Jägerjacke mit den riesigen Innentaschen. Es war Ironie des Schicksals, dass die konsumkritische Kleidungspolitik meiner Mutter den Boden für meine diebischen Eskapaden bereitete.
Die Robin-Hood-Karriere in grüner Jacke nahm jedoch mit der peinlichen Verhör-Szene im Drogeriemarkt ein jähes Ende. Beim Gedanken an meine Mutter und ihre hohe Meinung von meinem Gerechtigkeitssinn, an all ihre Sorgen und Mühen um meine Erziehung, wollte ich vor Scham im Boden versinken: Anstatt eines noblen Richters hatte sie jetzt einen feigen Ladendieb zum Sohn!
Doch als Gretel schließlich zusammen mit meinem Vaterauftauchte, war die angespannte Atmosphäre sofort verflogen. Malte verstand sich prächtig mit der Marktleiterin, und der Ladendetektiv stellte fest, dass er meine Mutter noch von einem Deutsch-für-Ausländer-Kurs kannte. Die Marktleiterin sagte, sie müsse den Fall zwar zur Anzeige bringen, aber könne sich gut vorstellen, dass man von einer Vorstrafe absehen würde, wenn ich mich einsichtig zeigte.
Man kam überein, dass ich die geklaute CD regelgerecht kaufen sollte. Da es mir aber bodenlos peinlich war, nach dem Vorfall vor die Kassiererin zu treten, die alles mitbekommen hatte, stellte sich der Ladendetektiv in die Schlange und kaufte das Diebesgut für mich ein. Mir wurde, wie in solchen Fällen üblich, ein Jahr Hausverbot erteilt, doch zum Abschied hieß es, fast herzlich: »Bis in einem Jahr!«
Die Marktleiterin erwies sich als äußerst geschäftstüchtige Frau, die es so verstand, aus einem Dieb einen treuen Kunden zu machen, denn ich kaufe dort noch heute gerne CDs.
Aus der Haft in der Drogerie befreit, lief ich auf dem Rückweg durch die Fußgängerzone heiter und beschwingt zwischen meinen Eltern. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann wir das letzte Mal so gemeinsam unterwegs gewesen waren. Zur Einschulung oder zu wichtigen Hockeyspielen war eigentlich immer nur meine Mutter gekommen. Die war jetzt sehr erleichtert, dass ich so glimpflich davongekommen war, und auch Malte war guter Stimmung. Freimütig erzählte er uns, dass er als Schüler auch mal beim Klauen erwischt worden war. Allerdings war es kein Tonträger, sondern ein Mercedes gewesen, den er sich damals Ende der 50er-Jahre hatte ›leihen‹ wollen, um eine Frau zu beeindrucken. Auf einem Münchner Parkplatz stieg er einfach in einen 170er Mercedes, in dem der Schlüssel steckte, und fuhr los, um seine Cousine abzuholen – den Führerschein hatte er gerade erst gemacht. Unglücklicherweise fuhr er aber genau amBesitzer des Wagens vorbei, der sofort den Parkwächter alarmierte. Noch bevor mein Vater den Parkplatz verlassen hatte, wurde er festgenommen. Er kam für eine Nacht in Untersuchungshaft, war aber bald wieder auf freiem Fuß – dank seinem Vater und dessen guter Verbindungen als Bundesrichter. Die Begründung für das gelinde Strafmaß, das die Münchner Kollegen meines Großvaters verhängten, war angeblich, dass Malte durch den besonders für einen Hamburger äußerst ungewohnten bayerischen Fön-Wind geistig verwirrt war und so zum Zeitpunkt der Tat als nicht voll zurechnungsfähig eingestuft werden musste.
Wie gut, dachte ich, Juristen in der Familie zu haben! Meine Tante war damals Jugendrichterin und stand mir mit Rat und Tat zur Seite, als ich ein reumütiges Schreiben als Reaktion auf
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