Vergiss mein nicht (German Edition)
hatten, haben sich uns jetzt zugewendet. Ich habe auch neue Kontakte hier in der Nachbarschaft. Ich glaube, Menschen, die Gretel nicht so gut vonfrüher kennen, fällt es generell leichter, mit ihrer Demenz umzugehen.«
Während der Recherche für meinen Film habe ich letzten
Sommer in der Schweiz die ehemals beste Freundin meiner
Mutter getroffen. Sie war, als meine Eltern zwischen 1969 und ’75 in Zürich lebten, mit Gretel in der FBB (Frauenbefreiungsbewegung) aktiv gewesen, und die beiden hatten sich unter
anderem für die Aufnahme von politischen Flüchtlingen aus
Chile in der Schweiz eingesetzt. Nachdem meine Familie wieder nach Deutschland zurückgekehrt war, blieben die beiden
über Jahrzehnte in Verbindung.
Ich fragte diese Freundin während eines Interviews, warum der Kontakt abgebrochen sei und ob das mit Gretels Erkrankung zusammenhänge.
»Ich habe das erst gar nicht geglaubt«, erzählte sie mir
nachdenklich. »Ich habe wirklich gedacht: Wenn einer nicht
Alzheimer bekommen kann, dann Gretel! Die glauben jetzt
vielleicht, dass sie Demenz hat, weil sie mal eine Schwäche
zeigt, aber das kann unmöglich sein. Mir ist erst klar geworden, dass ich mich täuschte, als ich keine Briefe mehr von ihr
bekam. Ich schickte ihr eine Karte von unserem Lieblingsort
in den Bergen, den wir unser ›Paradies‹ nannten, und schrieb:
›Gretel, weißt du noch da oben?‹ Aber es kam gar nichts zurück. Und dann habe ich es gemerkt.« Sie stockte hier im Erzählen und verdrückte eine Träne. »Ja, das hat mir viel ausgemacht. Ich habe sie nie gesehen, nachher. Ich habe mich davor
gescheut. Ich weiß gar nicht, wie sie jetzt aussieht, wie sie
sich verändert hat. Das macht mir richtig Angst, sie zu sehen,
in einer so anderen Situation. Vielleicht sollte ich mich doch
überwinden und mal nach Bad Homburg fahren? Obwohl sie
mich wahrscheinlich nicht mehr erkennen würde. Aber Malte
hätte vielleicht Freude daran, wenn ich käme.«Aufgetaucht ist sie nach unserem Gespräch nicht mehr.
Eine andere sehr gute Freundin von Gretel, die sie ebenfalls in der Schweiz kennengelernt hatte, ist Olivia, die ehemalige Kindergärtnerin meiner jüngeren Schwester. Mit ihr zusammen hat Gretel Anfang der 70er in Zürich einen autoritätskritischen Kinderladen aufgebaut. Es ging darum, den jungen Müttern an der Universität die Chance zu geben, ihre Karriere weiterzuverfolgen. Die beiden hatten ähnliche Ansichten über Kindererziehung, und sie blieben auch nach ihrer beider Umsiedelung von der Schweiz nach Deutschland in engem Kontakt. Gretel verschlug es nach Bad Homburg, und Olivia zog nach Hamburg, wo meine Eltern sie gerne besuchten. Unsere Familien verbrachten viele gemeinsame Urlaube, und zwischen den Frauen bürgerte es sich ein, mindestens einmal pro Woche zu telefonieren, meistens am Sonntag.
Bis Gretel vor drei, vier Jahren auch ihre beste Freundin nicht mehr richtig einordnen konnte und das Telefonieren aufgab. Für Olivia war der ›Verlust‹ jener Gretel, die sie von früher kannte, sehr schmerzlich. Als Leiterin einer Schauspielschule war sie auch schwer abkömmlich, und die gegenseitigen Besuche wurden immer seltener. Die sporadischen Begegnungen in den letzten Jahren fielen ihr immer schwerer und oft kamen ihr die Tränen.
Malte und ich freuen uns sehr, dass sich Olivia nicht vor dem Besuch scheut und sich am ersten Wochenende, das Gretel wieder zu Hause verbringt, angekündigt hat. Sie wird von ihrem Sohn begleitet, der wie ich Mitte 30 ist und mit dem ich schon im Sandkasten gespielt habe. Er geht mit Gretel ohne Berührungsängste um und hat seinen großen beigen Labrador dabei, der sich schwanzwedelnd und hechelnd vor Gretel aufbaut. »Fabelhaft!«, ruft Gretel begeistert, als das Tier sie beschnüffelt, und befindet: »Toller Hund!«
Später sitzen wir beim Abendessen, Gretels Sessel haben wir in unsere Richtung gezogen und zu uns gedreht, sodass sie sich nicht ausgeschlossen fühlen muss. Sie ist bester Laune und ruft immer wieder Kommentare dazwischen wie: »Find’ ich super!« oder »Macht weiter!« Als sie jemand fragt: »Möchtest du Sekt?«, antwortet sie jedoch abwehrend: »Nein!«
Nach ›gutem alten Brauch‹ tupfen wir ihr ein wenig Rotwein per Wattestäbchen auf die Zunge. Olivias Sohn sieht die Situation erfrischend gelassen: »Eigentlich ist es so wie immer: Früher war Gretel beim Essen ja eigentlich auch nie mit am Tisch, sondern ständig in der Küche.« Sie hatte tatsächlich
Weitere Kostenlose Bücher