vergissdeinnicht
zum ersten Mal sah, wusste ich, dass wir Freundinnen werden würden. Ich wusste es einfach. Sie saß in der Ecke des Gemeinschaftsraums und kritzelte wie wild in einem Notizbuch herum. Nichts von dieser gehemmten Ich-bin-die-Neue-Ausstrahlung. Sie hatte tolles Haar und schöne Klamotten. Ich bin nicht oberflächlich, aber diese Sachen helfen, wenn man sich entscheiden muss, ob man sich bei jemandem Mühe geben will oder nicht. Okay, ich bin wohl oberflächlich. Aber alle anderen auch.
Ich ließ mich auf den Platz neben ihr fallen und fragte sie, was sie da schrieb. Sie schrieb eine Geschichte. Wir hatten etwas gemeinsam – wir beide schrieben gerne. Und so fingen wir an zu reden. Ich hatte vorher noch nie mit jemandem über das Schreiben geredet. Englischlehrer zählen nicht. Von da an hingen Sal und ich immer mehr miteinander rum. In den Mittagspausen, in den anderen Pausen, in den Freistunden. Jeden Tag schienen wir ein bisschen mehr Zeit miteinander zu verbringen, bis ich kaum noch mit anderen sprach. Ich hing nicht mehr mit den üblichen Leuten rum, und die merkten es nicht mal wirklich.
Als wir uns ungefähr einen Monat kannten, war ich bereit für den nächsten Schritt . Dieser Schritt von »jemanden nur in der Schule sehen« zu »jemanden in deiner Freizeit treffen« ist eine große Sache. Aber ich war so weit. An einem Freitag, an demmeine Mutter in London jemanden besuchte, lud ich Sal zu mir nach Hause ein.
Wir bestellten Pizza und hingen auf dem Sofa ab. Ich erfuhr noch etwas mehr über sie: Peperoni war ihre Lieblingspizza. Wir beide fanden, dass soziale Netzwerke für Verlierer sind. Sie wollte später Rechtsanwältin oder Schriftstellerin oder Meeresbiologin oder der Star in einem West-End-Musical werden. Sie war total verknallt in Chris, einen Jungen aus ihrer alten Schule, aber sie hatte nie etwas in seine Richtung unternommen, und er hatte keine Ahnung davon, und jetzt war es zu spät, weil er über dreihundert Kilometer weit weg wohnte. Seufz.
Unterm Strich war ich mehr als nur ein bisschen aufgeregt (heimlich, versteht sich), dass ich eine neue beste Freundin hatte. Nicht, dass ich eine alte gehabt hätte, die sie ersetzen konnte. Sal tat mir gut. Sie war immer so fröhlich , und das nicht auf eine nervige Art. Genau das richtige Maß an Gutdrauf. Sie war so verdammt optimistisch allem gegenüber. Immer überzeugt, dass morgen alles besser sein würde als heute. So sicher, dass wir beide bekommen würden, was wir wollten. Ich hätte wissen müssen, dass das nicht möglich war.
Sal und ich wurden so ziemlich unzertrennlich. Ich wohnte an den Wochenenden praktisch bei ihr zu Hause. Mum schien das nicht zu stören. Ich glaube, es passte uns beiden gut: Sie konnte so tun, als hätte sie weder Kinder noch Sorgen, und ich konnte so tun, als hätte ich eine Mutter, die mich tatsächlich mochte. Und auch einen Vater, der Vollständigkeit halber.
Einen Abend vor Weihnachten übernachtete ich bei Sal (chinesisches Essen, Wein, Skins – Hautnah auf DVD ). Wir machten uns bettfertig, putzten die Zähne vorm Badezimmerspiegel. Ich griff an Sal vorbei nach einem Handtuch. Sie schnappte sich mein Handgelenk und fragte: »Was ist das?«
Mein Magen machte diese fürchterliche Schwenkbewegung, wie eine Waschmaschine, wenn ein Zyklus anfängt. Umständlich spuckte ich einen Mundvoll zahnpastigen Schaum aus unddachte angestrengt nach. Ich weiß nicht, warum ich überrascht war. Schließlich waren die Narben nicht unsichtbar oder so was. Ich versuchte, es runterzuspielen – ach, das ist nichts, nur ein paar Kratzer, da war ich noch ein Kind … von der Katze meiner Oma?
Es fiel mir schwer, sie anzusehen. Noch schwerer, mich anzusehen. Sie nahm mein Kinn in die Hand und drehte meinen Kopf so, dass ich ihr in die Augen sehen musste. »Grace, du weißt, dass du mir alles sagen kannst. Du bist meine beste Freundin.« Ich hatte noch nie eine beste Freundin gehabt. Keine andere Wahl, als die Wahrheit zu sagen. Ich folgte Sal in ihr Zimmer, setzte mich auf das Bett und erzählte.
Ich war gerade fünfzehn geworden, als ich mich zum ersten Mal ritzte. Ich saß in meinem Zimmer und schrieb an einem Aufsatz. Wie üblich dröhnte Musik. Es war ein ziemlich normaler Abend. Nicht depressiver als an anderen Tagen. Die Sache ist die: Ich war nie glücklich, nicht wirklich. Schleppte mich so von Tag zu Tag, blieb dabei immer in einem seltsamen Zustand des Nichtsfühlens. Was nicht bedeutet, dass ich nicht auch manchmal
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