Vergissmichnicht
Oberbürgermeister bei seinem Wahlsieg verhaften!« Er stieß seinen erhobenen Zeigefinger empört in Richtung Ole. »Und wo waren Sie überhaupt, Strobehn! Eine ganze Woche lang habe ich Tag und Nacht nach Ihnen gesucht. Und nun stehen Sie hier einfach so vor mir, als seien Sie nie verschwunden gewesen! Also, so geht das nicht!« Der Zeigefinger des Polizeipräsidenten vollführte inzwischen energische Kreise in der Luft.
Ole spürte ein Glucksen, das tief in seiner Kehle aufstieg, und hielt die Luft an, um es zu unterdrücken. Der Polizeipräsident war ein sehr emotionaler Mensch und er hatte Ole schon bei vorangehenden Gesprächen zum Lachen gereizt. Wenn er sich echauffierte, lief er hochrot an. Wenn er gut gelaunt war, pflegte er sein Gegenüber mit den schönsten Melodien zu erfreuen, in die er seine Worte kleidete. »Wen haben wir denn da-haa«, hatte er bei der ersten Begegnung erfreut geträllert und Ole über den Rand seiner Brille hinweg freundlich gemustert. »Den Herrn Strohobe-hen aus dem hohen No-horden.« Sodann hatte er seine Brille von der Nase genommen und Ole noch eingehender betrachtet. Ole wusste inzwischen, dass er die Brille nur trug, weil er sich damit wichtiger vorkam. Zumindest hatte keiner je gesehen, dass der Polizeipräsident durch die Brille schaute. Ob in die Nähe oder in die Ferne: Er äugte stets über das Gestell auf seiner Nase. »Was führt Sie zu uns in den schönen Sühüüüden?«, hatte der Polizeipräsident wissen wollen, seine Brille am Bügel genommen und sie sehr schnell um ihre Brillenachse kreisen lassen. »Etwa die Liiiie-hiebe?«
»Nein«, hatte Ole lächelnd erwidert. »Die Neugierde. Ich wollte wissen, wie die Menschen hier unten so sind. Deshalb habe ich den Versetzungsantrag gestellt.« Ole ging davon aus, dass der Polizeichef den wahren Grund seiner Versetzung kannte, und war ihm dankbar, dass er ihm mit seinen Worten einen unbefangenen Einstieg ermöglichen wollte.
»Schön, schön«, hatte sich der Polizeipräsident gefreut, seine Brille einen erneuten Looping vollführen lassen und sie sodann wieder auf seiner Nasenspitze platziert.
»Dann wollen wir beide mal schön gemeinsam Verbrecher ja-haaagen.«
Und nun hatte Ole seinen ersten – nein, seine ersten beiden Verbrecher gejagt und gefangen und der Polizeipräsident schien überhaupt nicht erfreut. Im Gegenteil. Seine dunklen Knopfäuglein funkelten über dem Brillenrand wütend in Oles Richtung.
»Zwei Tage. Zwei Tage war ich verschwunden. Keine Woche«, versuchte Ole zu relativieren. »Vielen Dank, dass Sie persönlich nach mir gesucht haben, Herr Leitender Kriminaldirektor. Das ehrt mich sehr«, sagte er, wohl wissend, dass der Polizeichef selbst keinen Finger krumm gemacht hatte, um ihn zu finden. Wenn Hannes Auberle ›Ich‹ sagte, dann meinte er damit den gesamten Polizeiapparat. »Bitte verzeihen Sie, dass ich Ihnen Umstände machen musste. Die Frau des Wolfgang Gruber hatte mich als Geisel genommen.«
Die Äuglein des Polizeipräsidenten blinzelten verdutzt.
»Reden Sie keinen Unsinn, Strobehn. Die Gattin unseres künftigen Oberbürgermeisters ist eine recht zierliche Person. Es dürfte ihr schwerfallen, einen nordischen Hünen wie Sie …«, er maß Ole vom Scheitel, der sich in 1,90 Meter Höhe befand, bis zu dessen Schuhen Größe 48, »… einen nordischen Hünen wie Sie gefangen zu nehmen«, fuhr er fort.
»Es ist mir auch ziemlich peinlich«, sagte Ole und blickte gespielt verlegen auf seine Schuhspitze. »Aber sie hat es trotzdem geschafft. Sie ist übrigens die Mörderin von Elisabeth Meierle.«
»Reden Sie keinen Unsinn, Strobehn«, wiederholte der Polizeichef. Ole fragte sich, ob er gleich wieder die Brille abnehmen und mit dem Nasengestell Loopings vollführen würde. Aber die Brille blieb fest auf des Polizeichefs Nasenflügel sitzen.
»Verzeihen Sie, aber es ist kein Unsinn, Herr Leitender Kriminaldirektor«, sagte Ole. »Sie hat die Tat auch bereits gestanden.«
Der Polizeichef nahm seine Brille nun doch von der Nase und ließ sie elegant – und für seine Verhältnisse sehr langsam – einmal um den eigenen Bügel kreisen. Dabei starrte er Ole nachdenklich an. Dann deutete er mit seiner Brille auf Wolfgang Gruber. »Und deshalb verhaften Sie ihren Gatten?«, fragte er stirnrunzelnd.
»Nein, natürlich nicht«, wehrte sich Ole, der ahnte, dass der Polizeichef weitaus klüger war, als er zu erkennen gab. »Herr Gruber hat ebenfalls einen Mord begangen, der 30 Jahre
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