Vergissmichnicht
die Journalisten auf ihn ein. »Glückwunsch, mein lieber Freund« und »Ich freue mich ja so«, kam es von Wählern und Bekannten.
»Kommen Sie bitte, Herr Gruber? Sie sollten von der Tribüne aus noch ein paar Worte zu den Wählern sprechen. Und natürlich auch von meiner Seite die allerherzlichsten Glückwünsche.« Das war der Wahlleiter, der Gruber am Arm nahm und sich mit ihm einen Weg durch die dicht gedrängt stehende Menge bahnte. Es war nicht so einfach voranzukommen. Jeder wollte ein paar Worte mit Gruber wechseln, jeder ihn aufhalten, ihm die Hand schütteln, ihm gratulieren.
Endlich waren sie angekommen. Die Tribüne war eigens zu diesem Zweck errichtet worden. Gruber stieg die drei Stufen bis zu der Bühne empor, nahm das Mikro in die Hand und ärgerte sich erneut über die Abwesenheit seiner Frau. Sie hätte jetzt eigentlich neben ihm stehen müssen.
»Liebe Konstanzer«, begann Gruber. »Ich bin zutiefst gerührt über Ihr Vertrauen und ich verspreche Ihnen, alles zu tun, um Ihnen allen ein guter Oberbürgermeister zu sein. Lange Reden haben Sie in den letzten Wochen genug gehört. Heute wird gefeiert. Dort hinten steht ein Brauereiwagen. Ich sage: Freibier für alle.« Der Jubel, der seinen Worten folgte, war lauter als jener, mit dem die Konstanzer seine Wahl kommentiert hatten. Über Freibier freuten sich auch jene, die Gruber nicht leiden konnten.
Die Musikkapelle stimmte das Badener Lied an, Gruber legte, ebenso wie zahlreiche Wähler, die Hand aufs Herz und sang aus vollster Brust: »Das schönste Land in Deutschland's Gau'n, das ist mein Badner Land! Es ist so herrlich anzuschaun und ruht in Gohottehes Hand.«
Gruber ließ seinen Blick über die Menge schweifen. Wie sie alle ehrfürchtig zu ihm emporblickten. Wie sie alle das Badener Lied sangen, um ihm zu huldigen. »Drum grüüüüß’ ich dich, mein Bad’ner Land«, sang Gruber und starrte plötzlich direkt in das Gesicht von Ole Strobehn. Der war doch eben noch nicht da gewesen? Versuchte jetzt wohl, sich einzuschleimen. Was war der unverschämt gewesen, vor der Wahl. Na, dem würde er es zeigen, jetzt, wo er Oberbürgermeister war. Ebenso wie dieser dicken Wachtel, die da neben ihm stand. Diesem Mannsweib. Dieser Grundel. »Du eeedle Perl’ im deutschen Land«, säuselte Gruber und stellte missbilligend fest, dass weder Strobehn noch die Grundel sangen. Ganz im Gegensatz zum Konstanzer Polizeichef, der etwas weiter rechts stand, was Strobehn und Grundel freilich nicht sehen konnten. Der hatte die Hand aufs Herz gelegt und nickte Gruber lächelnd zu, als er seinen Blick bemerkte. Gruber nickte leicht zurück und starrte dann wieder Ole Strobehn an. Er blickte ihm direkt in die Augen und lächelte triumphierend. Ole lächelte zurück und Gruber hatte das Gefühl, dass der Polizist aus irgendeinem Grund immer noch über ihn triumphierte. Obwohl er doch hier oben stand. Obwohl er es geschafft hatte. Er, der kleine, stinkende Wolfi. Er spürte, wie sich ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengegend breitmachte. Es fühlte sich ganz ähnlich an wie damals, als sie ihn in der Schule fertiggemacht hatten. Sein Magen zog sich schmerzhaft kribbelnd zusammen und seine Hände wurden feucht. Strobehn würde doch nicht …? Er würde doch nicht …? Jetzt, wo er, Gruber, es endlich geschafft hatte? Das konnte nicht sein! Das durfte das Schicksal ihm nicht antun. Einmal, ein einziges Mal musste er in seinem Leben doch auch Glück haben. Wo er als Kind doch so schlimm gemobbt worden war. Wo er als junger Mann von seiner großen Liebe kaltherzig betrogen worden war. Und wo er es 25 Jahre lang an der Seite einer sauertöpfischen Frau wie Beate ausgehalten hatte.
Die Wähler stimmten die letzte Strophe des Badener Lieds an. An der Treppe bildete sich langsam eine Schlange von Menschen, die ihm gratulieren wollten. Auch einige Journalisten warteten dort. Ole nickte seiner Kollegin zu und setzte sich in Bewegung. Die beiden kamen zum Aufgang der Treppe.
Das ungute Gefühl verstärkte sich. Es kroch vom Magen hinauf in den Brustkorb, wälzte sich in seinen Hals, fand Zugang zu seinem Mund und entlud sich in Form eines sauren Aufstoßens. Gruber bekam Panik. Kurz hatte er den Impuls zu fliehen. Obwohl er wusste, dass das Unsinn und dass es zudem sehr unwahrscheinlich war, dass sie etwas herausbekommen hatten, suchten seine Augen nach einer Fluchtmöglichkeit. Er müsste schon über das Geländer springen, das die Bühne nach vorne und nach links
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