Vergissmichnicht
begrenzte, denn rechts, dort, wo sich die Treppe befand, standen der Strobehn und die dicke Grundel. Moment, der Strobehn stand dort allein. Wo war die Grundel? Sein Blick raste über die Menge, bis er die Beamtin fand. Sie stand jetzt links der Bühne. Und direkt davor standen zwei Polizisten in Uniform und starrten betont gelangweilt zu ihm empor. Gruber schluckte. Das Badener Lied war verklungen. Schweigen breitete sich über dem Platz aus. Er musste etwas tun, etwas sagen. »Sie sehen mich fassungslos und sprachlos. Ich bin sehr gerührt«, versuchte Gruber, den Moment des Schweigens zu erklären. Und dann rief er erneut »Freibier für alle!«, und wandte sich, was blieb ihm anderes übrig, seinen Gratulanten zu. Die Bürgermeister der Nachbargemeinden waren die Ersten, die gratulierten. Und als Geste der besonderen Herzlichkeit, Freude und Verbundenheit, schüttelten sie ihm nicht einfach bloß die Hand, sondern umarmten ihn wahlweise, legten die linke Hand an seinen rechten Ellbogen, während sie seine rechte mit ihrer rechten schüttelten, oder sie legten die linke Hand noch auf die ineinander verschlungenen rechten Hände. Gruber nahm jedes Detail ganz genau wahr. Er sah, dass den schwarzen Schnauzer des Landtagsabgeordneten Erfeinraus mittlerweile weiße Härchen zierten. Er bemerkte das extravagante Brillengestell seines künftigen Kollegen Parler. Ob er es schon immer getragen hatte? Und die grell geblümte Bluse von Parlers Gattin schmerzte in seinen Augen. Grubers Bewusstsein blähte die Nebensächlichkeiten ungemein auf, weil es sich nicht mit der Hauptsache beschäftigen wollte. Zwischendurch flog sein Blick immer wieder zu Ole Strobehn. Er registrierte, dass Strobehn sich inzwischen in die Schlange der Gratulanten eingereiht hatte, und atmete auf. Wenn er ihn hätte verhaften wollen, dann hätte er dafür sicherlich nicht Schlange gestanden, sondern wäre gleich zur Sache gekommen. Und die anderen Polizisten standen vor der Bühne, um ihn zu schützen. Schließlich war er jetzt eine wichtige Person. Gruber sonnte sich einige Minuten in der Vorstellung, es sei normal, dass der Oberbürgermeister von Konstanz Polizeischutz genoss. Und dann stand auch schon Ole Strobehn vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen. »Meinen Glückwunsch, Herr Oberbürgermeister«, sagte er. »Darf ich Sie überhaupt schon so nennen, wo Sie doch noch gar nicht vereidigt sind?«
»Sie dürfen«, antwortete Gruber hochnäsig und fügte als Zeichen dafür, dass wichtige Männer wie er sich die Namen von kleinen Polizisten nicht zu merken pflegten, hinzu: »Und Sie sind Herr …?«
Um Oles Mundwinkel zuckte es amüsiert. Er fand Grubers Verhalten gar zu albern. »Strobehn.« Er deutete eine leichte Verbeugung an. » Kommissar Strobehn. Ich bin gekommen, um Sie zu verhaften, wenn Sie gestatten, Herr Oberbürgermeister. Wegen Mordes an Carlo Bader. Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern. Und jetzt nehmen Sie bitte die Hände auf den Rücken.«
Ole nickte den zwei Beamten zu, die inzwischen hinter Gruber standen. Handschellen klickten. Gruber wurde kreidebleich. »Das werden Sie mir büßen, Sie … Sie … Sie … widerlicher Fischkopf, Sie!«
Ole zuckte die Achseln. »Bei der Strafe, die Sie erwartet, macht die Beamtenbeleidigung den Kohl auch nicht mehr fett«, entgegnete er ruhig. Und dann, zu seinen Kollegen: »Abführen.«
Kameras klickten, Blitze zuckten, Menschen schrien. Die Worte Strobehns verbreiteten sich in Windeseile. »Tut mir leid, Sie müssen wohl erneute Wahlen ansetzen. Dabei waren Sie sicherlich froh, es geschafft zu haben«, sagte Ole zu dem fassungslosen Wahlleiter, der die ganze Zeit neben Gruber gestanden hatte. »Oder rückt in einem solchen Fall der Kandidat mit den zweitmeisten Stimmen auf?«
»D… d… d… d… das weiß ich nicht. Da… das müsste ich e… erst in der G… Gemeindeordnung n… nachlesen«, stotterte der arme Wahlleiter. »F …f …falls das dort überhaupt g… g… geschrieben steht. Ich g… glaube nicht, dass es einen derartigen F… Fall in B… Baden-W… Württemberg schon einmal gab.«
»Ja«, nickte Ole. »Ein tragischer Präzedenzfall. Aber Sie schaffen das schon.« Er hieb dem Wahlleiter aufmunternd auf die Schulter und bahnte sich den Weg zu seinen Kollegen, wo bereits ein aufgebrachter Polizeichef Aufklärung verlangte.
»Was geht hier vor?«, herrschte er Ole an. »Diese Aktion war nicht abgesprochen. Sie können doch nicht den frisch gewählten
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