Vergissmichnicht
zurückliegt. Das damalige Mordopfer war der heimliche Geliebte der Tochter des aktuellen Mordopfers.«
»Ach«, sagte der Polizeipräsident verblüfft und vergaß für einen Moment lang seine gestelzte Ausdrucksweise. »Das ist ja ’n Ding!«
»Allerdings«, schmunzelte Ole.
Der Polizeipräsident setzte sich seine Brille umständlich wieder auf die Nase.
»Was?«, schnaubte Gruber, der neben einem Polizeibeamten im Wagen saß und die Diskussion verfolgte. » Meine Frau soll die Meierle umgebracht haben? So ein gottverdammter Unsinn. Sie kannte die Frau doch gar nicht.«
Im nächsten Moment ärgerte er sich über seine Worte. Hier hätte sich vielleicht die Chance geboten, seiner Frau auch den Mord an Bader anzuhängen. Hätte er doch nur einen Moment nachgedacht! Gruber spürte die altbekannte Wut in sich aufsteigen, aber dieses Mal richtete sie sich gegen sich selbst. Teufel noch mal, er war aber auch ein Volltrottel. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich selbst zu verletzen, sich für seine Dummheit zu bestrafen, und kniff sich mit der einen in der Handschelle steckenden Hand heftig in die andere.
Ole Strobehn beugte sich vor, legte eine Hand aufs Wagendach und blickte auf Gruber hinunter. »Irrtum, Herr Gruber«, sagte er. »Ihre Frau kannte Frau Meierle sehr wohl.«
Mit einem Mal war für Gruber alles glasklar. Seine Frau hatte mit der Meierle gemeinsame Sache gemacht! Sie hatte der Meierle seine Handynummer gegeben und sie ermutigt, ihm Angst zu machen. Diese undankbare, vertrocknete alte Jungfer. Wenn er die erst in die Finger kriegen würde … »Sie hat mich erpresst«, stellte er fest und blickte Ole fassungslos an.
»Frau Meierle? Ja, das wissen wir«, erwiderte Ole.
»Nicht Frau Meierle. Meine Frau«, keuchte Gruber.
Ole sah ihn fragend an. »Wie meinen Sie das, Ihre Frau hat Sie erpresst?«
»Sie hat gemeinsame Sache mit der Meierle gemacht, dieser blöden Gans«, schnappte er.
»Dann hätte sie sie ja wohl kaum umgebracht«, warf Monja Grundel, die inzwischen auch am Polizeiwagen eingetroffen war, trocken ein. Der Polizeipräsident verfolgte die Diskussion aufmerksam. Drehte den Kopf von einem zum anderen wie der Besucher eines Tennisspiels, der den Ball nie aus den Augen lässt.
»Ihre Frau hat mitbekommen, dass Frau Meierle Sie zu erpressen versuchte. Sie hat sie umgebracht, um Ihnen nicht die Wahl zu vermasseln.«
Gruber fiel die Kinnlade herunter. Er war sprachlos und fühlte ein merkwürdiges Gefühl in sich aufsteigen. Es war das Gefühl des schlechten Gewissens, aber er wusste es nicht. Denn Gruber ahnte nicht einmal, wie sich ein schlechtes Gewissen anfühlte. Er hatte es niemals zuvor empfunden. Nicht, als er seine Mutter verprügelte, nicht, als er seine Freundin und später seine Frau schlug, nicht einmal, als er einen Menschen tötete und seine damalige Freundin vergewaltigte. Doch jetzt, als er hörte, dass seine Frau für ihn gemordet hatte, spürte er es mit einem Mal, dieses fremde Gefühl des schlechten Gewissens.
»Ihre Frau wusste übrigens von Ihrem Mord an Carlo Bader. Sie war seine Verlobte und hat den Mord beobachtet. Sie war gerade nach Überlingen gekommen, um ihrem Carlo zu sagen, dass sie ein Kind erwartet, als sie ihn in den Armen Ihrer Freundin sah.«
»Wie?« Grubers Kopf fuhr ruckartig hoch. Er war von der Nachricht derart überrumpelt, dass er vergaß, dass er den Mord an Carlo Bader ja noch längst nicht gestanden hatte, dass er eigentlich widersprechen sollte, als Strobehn ihm den Vorwurf an den Kopf warf.
»Wie?«, fragte auch der Polizeipräsident verblüfft.
»Sie stand in der Nähe und hat alles gesehen«, sagte Ole knapp.
»Und dann geht sie her und heiratet den Mann, der ihren Verlobten umgebracht hat?« Der Polizeipräsident konnte es nicht fassen.
Gruber versank währenddessen tief in der Vergangenheit. Er bemerkte weder die Menschentrauben, die sich mittlerweile um den Polizeiwagen drängten, seine Wähler, die ihn mit fassungsloser Miene anstarrten, noch hörte er die Worte, die Ole Strobehn an ihn richtete. Er war wieder Ende 20 und Student an der Uni Konstanz. Und dann war da dieses junge Mädchen. Unscheinbar, schüchtern. Dünne, strähnige Haare, die ihr ohne Schwung wie Spaghetti auf die Schultern gehangen hatten. Sie war dünn, zu dünn, hatte keine Kurven, dazu ein langweiliges Gesicht. Er hatte ihr keinen zweiten Blick geschenkt, ja, selbst beim ersten Blick hatte er sie nicht wirklich wahrgenommen, sondern eher durch sie
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