Vergraben
Sie war in einen Herrenmantel gehüllt.
»Hallo«, grüßte sie.
»Hallo«, erwiderte Nathan. »Was machst du denn hier draußen?«
»Nur ein bisschen frische Luft schnappen.«
Er lachte auf. Zu laut: Ein Vogel flog aus den dunklen Bäumen hinter ihnen auf. Sie schaute ihm über Nathans Schulter hinweg nach und folgte seinem Flug.
»Was war das? Eine Eule?«
Er spähte angestrengt in die Dunkelheit. Die Milchstraße erstreckte sich wie ein riesiger Kondensstreifen über den Himmel.
»Ich weiß nicht. Ich glaube, es war vielleicht eine Krähe.«
»Egal. Du hast sie nicht sehr beeindruckt.«
»Und, woher kennst du Mark?«
»Ich kenn ihn gar nicht. Nicht so richtig. Er ist ein Freund von meinem Dad. Eigentlich ist das ein Glück.«
»Wieso?«
»Weil Mark meinen Vater respektiert, kann er sich theoretisch nicht an mich ranmachen.«
»Das ist wirklich ein Glück.«
»Ich sagte ›theoretisch‹.«
»O mein Gott. Das hat er nicht wirklich gemacht.«
»Nein, aber er war nahe dran. Mum, Dad und meine Schwester sind schon nach Hause gegangen. Also hab ich mich rausgeschlichen, um ihm zu entkommen. Soll er sich doch eine andere suchen, an der er sich aufgeilen kann.«
Nathan setzte sich neben sie, tat es ihr unbewusst gleich und zog die Knie an die Brust und schlang die Arme darum.
Er reichte ihr den Wein. Sie trank.
»Ich glaube, du bist in Sicherheit«, sagte er. »Er tanzt gerade mit meiner zukünftigen Exfreundin.«
»Würg.«
»Du solltest ihn sehen.«
»Lieber nicht. Ich kenne das. Ich weiß, wie es sich anfühlt. Er bohrt seinen Ständer in dich rein, reibt ihn an dir. Als würdest du das nicht merken.«
Nathan schüttelte sich.
»Und warum ist sie deine zukünftige Exfreundin? Weil sie mit ihm tanzt?«, fragte das Mädchen.
»Nee. Das ist ’ne lange Geschichte.«
»Wir haben Zeit.«
»Kurz gesagt, sie hat einen anderen.«
»Hinter deinem Rücken?«
»So ziemlich.«
Sie zauste ihm die Haare.
»Du Ärmster.«
Etwas geschah zwischen ihnen. Ein Zauber lag in der Nacht.
Sie blieben noch ein paar Minuten sitzen und betrachteten den langsam kreisenden Himmel – bis Nathan sagte: »Ich erfriere.«
»Ich auch.«
»Willst du dich wieder reinschleichen und vielleicht etwas Stoff haben?«
»Was würde deine Freundin dazu sagen?«
»Ich glaube nicht, dass sie noch meine Freundin ist.«
»Ich wollte nur sichergehen.«
»Aha.«
»Was hast du dabei?«
»Ein bisschen Koks. Es gibt da ein Zimmer. Du gehst die Haupttreppe hoch, dann den dunklen Flur entlang, die kleine Abzweigung.«
»Zu den Gästezimmern?«
»Du warst wohl schon mal hier.«
»Jedes Jahr an Weihnachten, seit ich neun war.«
»Super. Die dritte Tür rechts. Wir treffen uns dort.«
»Ich gehe zuerst rein. Also bis in fünf Minuten?«
»Ja.«
Er sah auf die Uhr. Kurz vor Mitternacht.
Das Mädchen huschte davon, verschwand unter dem großen schwarzen Mantel.
Er wartete auf der Bank und betrachtete den ungewöhnlich klaren Himmel. Er sah einen Satelliten, ein blinkendes Licht, das zu hoch und zu schnell vorbeiflog, um ein Flugzeug zu sein.
Dann ging er zum Haus zurück. Er begann sich zu fragen, ob das Mädchen wirklich da gewesen war. Auf der Terrasse hielt er inne und erinnerte sich daran, wie die Dunkelheit des Wäldchens sie verschluckt hatte wie Tusche, die über eine Zeichnung lief. Er erinnerte sich an das kalte Gefühl ihrer Hand auf seiner Stirn.
Er ging wieder hinein und wurde von einem Schwall Hitze, Partygeschnatter und »La Isla Bonita« empfangen. Er gab seinen Mantel wieder ab und steckte dann den Kopf vorsichtig in den Ballsaal. Sara stand in einer Ecke und unterhielt sich mit jemandem, einer Frau.
Er eilte die Treppe hinauf und drückte sich den schummerigen Korridor entlang. Er ging zur dritten Tür auf der rechten Seite, hielt einen Augenblick inne und drückte dann die Klinke hinunter.
Die Tür ging auf und das Licht war eingeschaltet und das Mädchen war im Zimmer. Sie hatte ihren Mantel aufs Bett geworfen. Sie trug einen kurzen Rock und ein enges T-Shirt mit irgendeiner ironischen Aufschrift. Adidas-Turnschuhe. In der Hand hielt sie mehrere Papierfetzen. Er sah das Wort JA. »Was ist das denn?«, fragte sie.
»Das willst du lieber nicht wissen.«
»Hast du hier drin Gläserrücken gespielt? Meine Güte, wie alt bist du, zwölf?«
Noch einmal nahm er den Spiegel von der Wand (im Lampenlicht sah er die verschlungenen, getrockneten Schneckenspuren von seinen und Bobs angefeuchteten Fingern) und
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