Vergraben
was? Hast du einen Freund?«
Sie strich sich noch einmal das Haar zurück.
»Gott, ich wünschte, das wäre der Grund. Es wäre toll, wenn es daran läge, dass ich einen Freund hätte.«
Sie drückte die Zigarette aus und Nathan sagte: »Okay, jetzt musst du mir aber auf die Sprünge helfen. Nur ein bisschen.«
»Krieg ich noch eine Zigarette?«
Er schob das Päckchen mit den Fingerspitzen zu ihr rüber. Sie zündeten sich beide eine neue Zigarette an.
Holly begann: »Also. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es ist ein bisschen seltsam. Alle, die ich kenne, wissen es längst. Deshalb musste ich es noch nie jemandem erzählen.«
Wenig damenhaft wischte sie sich mit dem Handrücken die Nase und sagte: »Okay. Also los. Vor vier Jahren. Vor inzwischen mehr als vier Jahren, Himmel. Egal. Vor vier Jahren ist meine Schwester …«
Sie konnte es nicht ertragen, die Worte auszusprechen, ebenso wenig wie Nathan es ertragen konnte, sie zu hören.
»Also, meine Schwester ist irgendwie verschwunden.«
Es kostete Kraft, sie anzusehen.
Er sagte: »O Gott. Das ist schrecklich. Das tut mir leid.«
Aber sie sah ihn nicht an. Er betrachtete ihr Profil. Sie sah nicht mehr die Bar. Sie sah Mark Derbyshires Party.
»Sie ist an einem Abend ausgegangen. Zu einer Party. Und ist einfach nie mehr nach Hause gekommen.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Die Polizei hat nach ihr gesucht. Man glaubte sogar zu wissen, wer es war. Aber es gab nicht genügend Beweise. Und man hat sie nie gefunden. Es gab keine Leiche oder so. Deshalb wissen wir immer noch nichts.«
Sie saßen schweigend da und sahen zu, wie der Barmann, ein junger, gut aussehender Australier mit ungezwungenem Lächeln, einen Cocktail mixte und dann drei Drinks für einen kichernden Junggesellinnenabschied am anderen Ende der Theke einschenkte.
»Heftig«, sagte Nathan.
Holly leerte ihr Glas. »Tut mir leid, dass ich dir das sagen muss.«
»Jetzt entschuldige dich nicht auch noch dafür.«
Sie unterbrach ihn. »Ich hatte damals einen Freund. Na ja, ich sage Freund. Wir waren verlobt, wollten heiraten. Im Juni vor drei Jahren. Die Belastung war zu groß. Für die Beziehung, du weißt schon.« Das sagte sie in einem verlegenen, gespielt transatlantischen Tonfall, und Nathan seufzte in bitterem Einverständnis. »Es war nicht seine Schuld, nicht wirklich. Ich habe aufgehört, seine Freundin zu sein. Ich konnte nur noch an Elise denken.«
»Was hatte er denn erwartet?«
Sie goss sich die Hälfte seiner Margarita in ihr Glas. Keiner von ihnen wollte den australischen Barkeeper rufen.
»Das sagt man so leicht. Aber weißt du, er war auch nur ein Mensch. Und diese Sache hat plötzlich unser ganzes Leben beherrscht. Es war, als gäbe es nichts anderes mehr auf der Welt. Es war unmöglich, irgendetwas zu unternehmen, irgendwo hinzugehen, was weiß ich, sich über irgendetwas zu unterhalten . Es war, als sei es verboten, glücklich zu sein. Na ja, egal. Wir haben das Haus verkauft. Ich wollte bei Mum und Dad sein, also hab ich meinen Job aufgegeben und bin wieder zu Hause eingezogen.«
Nathan trank den letzten Rest aus seinem Glas.
»Verstehe.«
»Es tut mir leid, dass ich dich damit belaste.«
»Ach Quatsch. Sei nicht albern.«
»Also. Dies ist das allererste Mal, dass ich seither etwas unternehme.«
»Dass du mit jemandem ausgehst?«
»Dass ich ausgehe. Punkt.«
Er starrte in sein leeres Glas.
»Okay.«
»Egal. Ich habe Mum davon erzählt …«
»Von heute Abend?«
»Ja. Das Kleid ist neu.«
»Es sieht toll aus.«
»Ha. Danke. Egal. Ich hab Mum erzählt, dass ich ausgehe. Es ging nicht anders. Ich bin mit dem neuen Kleid und den neuen Schuhen nach Hause gekommen. Und ich war irgendwie aufgeregt. Mum auch. Sie hatte diesen Ausdruck in den Augen. Und sie hat mich gefragt, wer du bist, woher wir uns kennen. Also habe ich es ihr erzählt, und sie hat gefragt, wohin wir gehen und wo ich das Kleid gekauft habe und was es gekostet hat …« Sie schob sich die widerspenstige Locke noch einmal hinters Ohr. »Und dann haben wir beide geheult.«
»Hm«, machte Nathan.
Holly lachte über sich selbst, während sie weinte, atmete dann lange und tief ein und wischte sich noch einmal die Nase.
»Jetzt weißt du Bescheid. Tut mir leid.«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Schon gut. Das weiß keiner.«
Der Barkeeper stellte im Vorbeigehen zwei verchromte Schälchen mit grünen Oliven und Erdnüssen vor sie hin.
»Okay«, sagte Nathan.
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