Vergraben
zweimal im Jahr fuhren Graham und Nathan zum Angeln. Dann stellten sie Zelte am Fluss auf, legten sich in ihre Schlafsäcke und betrachteten die Sterne. Sie standen früh auf, während der Nebel noch über dem Wasser hing, und wärmten ihr Frühstück über einem Primuskocher.
Er dachte selten an Elise. Außer in der fiebrigen Unmittelbarkeit seiner Träume spürte er keine Verbindung zu dem Menschen, der er in der Nacht ihres Todes gewesen war. Er wurde noch immer schweigsam, wenn er durch den Wald fuhr – das Flackern am Rand seines Gesichtsfelds –, aber es war eine fast automatische Reaktion geworden, ein Pawlowscher Reflex infolge eines alten, längst vergessenen Reizes. Wie das Knicksen eines Taufscheinkatholiken.
2007 hatten sie genug gespart, um sich ein größeres Haus in einer besseren Gegend leisten zu können. Aber sie wussten, dass sie ihr jetziges Haus niemals aufgeben würden, solange das fertig gestrichene Kinderzimmer leer stand. Das würde Unglück bringen.
Ihr Sexualleben verlief normal – voller Höhen und Tiefen. Aber Holly schob sich nach dem Geschlechtsverkehr schon lange nicht mehr Kissen unter das Becken, und sie hielten schon lange nicht mehr Händchen und diskutierten über Vornamen und örtliche Schulen.
Sie machten Fruchtbarkeitstests. Es gab keine pathologischen Ursachen.
Nathan zweifelte nicht daran, dass es an ihm lag. Er stellte sich vor, wie Hollys sanft leuchtende Eizelle bei der Berührung mit seinen infizierten Spermien verkümmerte.
Er hatte schon vor langer Zeit eine künstliche Befruchtung vorgeschlagen. Holly hatte abgelehnt. Es würde passieren, wenn es passieren sollte, sagte sie, und außerdem hatten sie genug zu tun. Aber nun war schon 2008 und sie dachten ernsthaft darüber nach. Bald sprachen sie wieder über Vornamen und Schulen. Sie standen in der Tür des leeren Kinderzimmers und blickten in die Zukunft.
Und dann kam Bob zurück, um Nathan zu sagen, dass der Wald gerodet wurde, weil eine Wohnsiedlung gebaut werden sollte.
23
Bob betrachtete die Bilder lange.
Als er sich zu Nathan umdrehte, versagte seine Stimme beinahe.
»Was zur Hölle ist das denn?«
»Ich hab doch gesagt, du sollst nicht reinkommen.«
Bob ließ sich langsam an der Wand nach unten gleiten und setzte sich auf die gebeizten viktorianischen Dielen. Er sah falsch dort aus, wie eine optische Täuschung, wie eine Zeichnung, bei der die Perspektive und der Maßstab verändert worden waren.
Fingerspitzen strichen über Nathans Nackenhaare.
Im Wohnzimmer flimmerte der Fernseher, und Nathan hatte den Eindruck, dass die Lampen sich verdunkelten, flackerten und dann wieder heller wurden.
»Meine Frau kommt gleich nach Hause«, sagte Nathan.
»Ich muss mit dir reden.«
»Dann gib mir deine Nummer.«
Bob holte ein Notizbuch aus der Tasche. Damals hatte er aus einem ebensolchen Buch ein behelfsmäßiges Ouijabrett gemacht. Nun kritzelte er mit zitternder Hand eine Nummer hinein, riss die Seite heraus, gab sie Nathan.
»Du musst mich anrufen.«
»Mach ich. Aber jetzt verpiss dich endlich.«
Der Strahl herankommender Scheinwerfer tauchte sie in gelbes Licht. Sie waren wie versteinert. Sie hörten die Geräusche eines parkenden Wagens, der sich in eine enge Lücke zwängte.
»O nein«, stöhnte Nathan.
»Ist das deine Frau?«
Nathan folgte Bobs Blick und begann zu verstehen. Bob hatte angenommen, er löge. Bob dachte, dass Nathan allein lebte, umgeben von gestohlenen Bildern eines Mädchens, das sie vor gut zehn Jahren heimlich mit dem Gesicht nach unten vergraben hatten.
Und jetzt war Bob verwirrt. Was für eine Frau erlaubte ihrem Mann, so viele Fotos von einem vermissten Mädchen aufzuhängen, einem Mädchen, das nie nach Hause kam?
Nathan spürte heftiges Mitleid in sich auflodern.
Dann hörte er, wie Holly näher kam: das Zuschlagen einer Autotür, das leise Piepsen der Funk-Zentralverriegelung, das Klimpern der Schlüssel.
Holly hielt ihre dicke Schlüsselkette immer fest in der Faust, wenn sie nachts draußen war. In dem Selbstverteidigungskurs, den sie in der Stadt besuchte hatte, bevor sie Judostunden nahm, hatte sie gelernt, dass Schlüssel eine hervorragende erste Waffe waren: Man konnte sie dem Angreifer in die Augen rammen, ihm damit das Gesicht zerkratzen.
Holly trug außerdem Pfefferspray in der Handtasche. In ihrem Schlafzimmer lag eine Elektroschockpistole, die Nathan auf Hollys Drängen hin voller Angst im Eurostar von Paris nach Hause geschmuggelt hatte.
Holly
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