Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
Verstand geraubt und sie zu einer unverantwortlichen Handlungsweise hingerissen hatte. Genau. Unverantwortlich. Das war ein solch kurzfristig anberaumter Urlaubgegenüber ihren Patienten in der Tat. Und eben das würde Reese niemals tun, die Überzeugung gewann immer mehr Kraft.
Erneut versuchte Nat, dagegen anzukämpfen und fragte sich, ob Mom nicht doch recht haben könnte und sie sich unnötig verrückt machte. Die Antwort gab nicht ihr Verstand, sondern ihr Körper. Nats Magen rebellierte, die Brust wurde ihr eng. Sie hatte gehörig Angst um Reese, auch wenn es schwerfiel, sich das einzugestehen.
Wenn sie ihre Tante doch wenigstens erreichen würde. In jeder freien Minute hatte Nat seit Donnerstagabend versucht, Reese ans Telefon zu bekommen. Vergebens.
Natana zog ihr Telefon aus der Hosentasche und drehte es unschlüssig in der Hand. In Hawaii war es etwas früher als hier, ganz genau kannte sie den Zeitunterschied nicht, aber wenn jemand wie Reese Urlaub machte, saß er bestimmt noch spätabends an irgendeiner Bar. Oder schlief sie seit Stunden tief und fest, weil sie wirklich erschöpft war und nur Ruhe suchte? Nat fühlte sich verunsichert, doch schließlich fasste sie sich ein Herz, tippte auf das Display und wählte Reeses Nummer.
Das Rufzeichen erstarb nach dem zwanzigsten Klingeln und eine Ansage ertönte. Nat legte auf, ohne hinzuhören. Gleich darauf wählte sie erneut.
„Bitte schicken Sie einen Wagen in die Finley Ave“, forderte sie bei der Telefonistin der Taxizentrale.
„Wohin soll es gehen?“
Nat nannte die Adresse von Reeses Apartmenthaus und grub in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel. Sie stellte das Täschchen zurück auf den Tisch. Zu blöd – es war nur ihre Hypernervosität, die sie solche Banalitäten überprüfen ließ, denn Reeses Schlüssel hing an Nats Bund und den hatte sie immer dabei.
Sie huschte ins Badezimmer und bürstete ihr Haar. Die Wartezeit zog sich nervtötend in die Länge. Nat hastete zwischen ihrem Zimmer und dem Wohnraum hin und her, und obwohl sie darauf gefasst gewesen sein sollte, zuckte sie zusammen, als es an der Tür klingelte. Sie warf einen Blick aus dem Fenster und sah das wartende Taxi.
Die Stufen des Treppenhauses flog Nat förmlich hinab und war etwas aus der Puste, als sie in den Fond des Wagens stieg. Garantiert nicht wegen fehlender körperlicher Fitness, sondern weil ihr die Aufregung die Luft aus den Lungen raubte und ihre Nerven immer gereizter wurden.
Entsprechend zittrig führte sie eine knappe Viertelstunde später den Schlüssel ins Schloss zu Reeses Wohnungstür. Die Dunkelheit und die Stille, die sie umfingen, als sie sich von innen an die Tür lehnte, wühlten ihre Gefühle noch mehr auf. Nat tastete nach dem Schalter an der Wand, doch auch das warme Licht wollte keine Besserung bringen. War es wirklich richtig, was sie hier tat? Durfte sie so weit gehen, in Reeses Privatsphäre herumzuschnüffeln, nur ihrem Bauchgefühl folgend, weil sie sich einbildete, etwas wäre nicht in Ordnung? Immerhin war sie es, die stets darauf bestand, dass dieses Gefühl, der Zwillingsschwester gehe es gut (manchmal auch nicht), sei Einbildung. Wie konnte sie dann jetzt darauf pochen, dass ihr Gefühl sagte, etwas stimme nicht?
Nat stieß sich mit einem Ruck von der Tür ab und kämpfte ihre Verwirrung nieder. Sie war jetzt so weit gegangen, nun würde sie auch den letzten Schritt machen und wenn Reese und Mom ihr beide den Kopf abreißen würden. Mehr als ein Mal ging ohnehin nicht.
Sie öffnete die Schlafzimmertür und schaltete das Licht ein.
Drei Wochen Hawaii. Für einen Urlaub dieser Länge müsste Reese eine Menge an Kleidung eingepackt haben, deren Fehlen man im Kleiderschrank eigentlich auch bei jemandem erkennen sollte, der wie ihre Tante Klamotten en masse besaß. Sie war beinahe ein Kleiderjunkie, gab ihr Geld für wenig anderes aus als Kleidung und Bücher. Nat fand das seit zwei oder drei Jahren mehr als gut, denn seitdem passte sie in Reeses Sachen und staubte so manches Mal echt krasse Fummel ab. Manchmal hatte sie allerdings das Gefühl, Reese würde die Sachen gar nicht erst für sich kaufen und nur so tun, als fielen sie für Nat ab. Sie wollte vermutlich verhindern, Alana zu nahe zu treten, die es sich nicht erlauben konnte, Nat allzu oft mit einem Shirt von Juicy Couture oder einer Jacke von Hollister zu verwöhnen. Moms Studium hatte sich durch Natanas Erziehung arg in die Länge gezogen, sodass sie noch am Anfang ihrer
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