Verhängnisvoll - Felsing, K: Verhängnisvoll
kannte. Einmal, so sagte Mom, habe Reese spontan einen Rucksack gepackt und sei losgezogen, um zur
Bridge to nowhere
in den San Gabriel Mountains zu wandern, weil ein paar Kommilitonen dort eine Party feiern und Bungee springen wollten.
„Ich meine, wer ist verrückt genug, dafür eine anstrengende 9-Meilen-Wanderung quer durch die Wildnis zu machen?“
Keine Frage, Mom wäre das im Traum nicht eingefallen. Eine andere Anekdote lautete, dass sich Reese weigerte, eine Kreuzfahrt mit Alana und ihren Eltern zu machen und stattdessen darauf bestand, auf einem Containerschiff eine freie Offizierskabine zu buchen. Kein Kapitänsdinner, kein Cocktailabend, kein Pool an Bord – Mom sei vor Langeweile auf der dreiwöchigen Tour auf dem Hochseefrachter beinahe gestorben.
„Echt? So was geht?“
„Ja. Es gibt noch mehr Verrückte wie Reese. Die Frachter-Urlaubs-Tour hatte damals tatsächlich ein Reisebüro im Programm.“
„Was haben denn Grandma und Grandpa dazu gesagt?“
„Reese war in dem Jahr dran, den Urlaub bestimmen zu dürfen.“
„Und?“
„Sie haben nichts gesagt, aber das war mehr, als wenn sie lauthals protestiert hätten.“
Nat hatte gekichert und allmählich tatsächlich geglaubt, Reese könnte auch dieses Mal verrückt genug gewesen sein, spontan zu einem Urlaub aufzubrechen. Immerhin hatte sie das auch im vergangenen Jahr getan und kurzfristig entschieden, eine Tornado-Safari zu machen. In diesem Fall hatte das Wetter die Entscheidung für den schnellen Entschluss vorgegeben und Reese hatte sich für eine Woche mit einer Gruppe professioneller Tornadojäger auf den Weg gemacht, um Eindrücke des Naturschauspiels einzufangen. Sie war verwegen und impulsiv genug, einfach von heute auf morgen in Urlaub aufzubrechen, wenn sich die Gelegenheit bot, das konnte Nat nicht abstreiten. Trotzdem! Reese würde niemals ihre Patienten im Stich lassen – und dieses Mädchen, Maggie Garner, einfach im Unklaren zurücklassen. Zumindest hätte Reese mit ihr und den Eltern über die Auszeit gesprochen. Mom hatte auf diesen Einwand kein Gegenargument gefunden und nur erwidert, ihr Gefühl sage untrüglich, dass es ihrer Schwester gut gehe.
Wenn sie da nicht mal eines Tages daneben liegen könnte. Nat hielt nichts von dieser Einbildung, einer angeblichen Schnur zwischen den Schwestern, die der anderen jeweils signalisieren würde, wenn es ihr schlecht ging. Und selbst wenn – wie sollten sie Reese im Falle eines Falles helfen, wenn sie nicht genau wussten, wo sie überhaupt war.
Nat ging in das noch halb leere Wohnzimmer. Mom hatte eine gebrauchte Couchgarnitur gekauft, aber es fehlten noch ein Sideboard und ein Fernsehtisch. Den Fernseher hatten sie aus der alten Wohnung mitgebracht, er stand auf dem Fußboden vor der Wand. Sie legte sich auf den Teppich und rollte sich auf den Bauch, zappte durch die Kanäle und blieb bei
Letterman
hängen.
Zwei Minuten später war die Sendung vorbei und Nat hatte überhaupt nicht mitbekommen, welches Thema sie verpasst hatte. Sie blickte auf die Uhr. Fünf nach halb eins. Um kurz nach zwölf hatten Mom und Dad sie zu Hause abgesetzt. Ob sie Mom anrufen sollte, um zu fragen, ob sie ihren Wagen haben konnte? Aber nein, so ein Blödsinn. Der Buick stand noch auf dem Parkplatz des
Chi Dynasty
in der Hillhurst Ave. Außerdem würde Mom nicht begeistert sein, wenn sie erfuhr, dass Nat noch wegwollte. Sie stand auf und wanderte rastlos im Raum auf und ab.
Hawaii … sie konnte sich nicht ausmalen, wie Reese auf diesen Gedanken gekommen sein sollte. Sonne? Vermutlich herrschten dort zurzeit noch deutlich sommerliche Temperaturen, während es in L. A. nur mäßig warm war, eher kühl, verglichen mit dem Oktober des Vorjahres. Auf Hawaii hatten sie jetzt Hurrican-Saison. Da Reese bereits eine Tornadojagd hinter sich hatte und der einzige Unterschied zwischen den Stürmen in ihrem Entstehungsort lag – Hurricans entstanden auf dem Meer, Tornados auf dem Land – glaubte Nat nicht, Reese könnte erneut von dieser Abenteuerlust gepackt worden sein. Doch was war es dann? Sollte sie tatsächlich durch die Zeit, in der Mom und sie bei ihr in dem kleinen Apartment gehaust hatten, derart ausgebrannt sein? Burn-out. Danach war ihr Reese nicht vorgekommen, auch wenn sie oft müde und erschöpft gewirkt hatte, wenn sie von ihrem Dienst kam. Oder musste man diese Zeichen sehr viel ernster nehmen? Ansonsten bliebe noch ein neuer Freund, der Reeses Hormone durcheinandergebracht, ihr den
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