Verirrte Herzen
befürchtete, dass fröhliche Kennenlerngeschichten für Anne im Augenblick nicht das richtige wären. Doch Anne hatte ihre gespannte Vorfreude wohl ohnehin bemerkt. »Ich habe auf der Arbeit eine ganz süße Frau kennengelernt. Sie war schon einige Male bei uns, und sie war mir des Öfteren aufgefallen. Na ja, und letzte Woche hat sie mir dann zusammen mit einer Überweisung einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand gedrückt.« Nadine strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Wangen erröteten leicht.
Anne bemühte sich, ihr zuzulächeln, doch ihr Gesicht verzog sich nur zu einer schiefen Grimasse. Natürlich freute sie sich für Nadine. Ihr Leben ging schließlich weiter. Aber es war schwer, anderen das Glück zu gönnen, welches ihr selbst verwehrt war. »Das hört sich doch sehr gut an«, versuchte sie ihre Stimme überzeugend klingen zu lassen. Zum Zeichen, dass sie es wirklich ernst meinte, umarmte sie Nadine herzlich.
»Willst du mir helfen, das richtige Outfit auszusuchen?« Nadine entging nicht, dass es nicht einfach für Anne war, sich mit ihr zu freuen. Aber vielleicht würde ein bisschen Ablenkung auch nicht schaden.
»Natürlich helfe ich dir.« Anne folgte Nadine ins Schlafzimmer, um sie bei ihrer Modenschau zu beraten.
Irgendwann hatte Nadine sich schließlich entschieden und machte sich gutgelaunt auf den Weg.
»Ich wünsche dir einen schönen Abend«, verabschiedete Anne ihre Freundin und schloss die Tür hinter ihr.
Nachdem Anne Lilly versorgt und ins Bett gebracht hatte, ließ sie sich im Wohnzimmer auf der Couch nieder. Sie wickelte sich in eine Wolldecke und gönnte sich ein Glas Wein.
Was konnte sie nun mit dem Abend anfangen? Es fiel Anne nichts ein außer fernzusehen oder zu lesen, wie an jedem Abend.
Schlagartig wurde ihr bewusst, dass dies nun ihr Alltag werden würde. Sie würde abends allein auf der Couch sitzen, während Lilly tief und fest schlief, und sich die Zeit mit einem Buch oder dem langweiligen Fernsehprogramm vertreiben. Es würde keine gemeinsamen Gespräche mit Caro geben. Sie würden keine Zärtlichkeiten mehr austauschen.
Anne fühlte sich plötzlich so einsam. Caros Nähe fehlte ihr jeden Tag mehr. Sie vermisste ihre Freundin schrecklich. Bei allem, was sie machte, musste sie an Caro denken, daran, wie sie gemeinsam diese und jene Aufgabe erledigt hatten, daran, was Caro wohl in dieser Situation unternehmen würde.
Anne umklammerte ihre Knie und versteckte den Kopf hinter ihren Beinen. Caro war die Liebe ihres Lebens. An dieser Erkenntnis führte kein Weg vorbei.
Anne war gerade dabei, für sich und Lilly Spinat zu kochen, als ihr Handy klingelte. Sie stellte die Herdtemperatur niedriger und fischte das Mobiltelefon aus den Tiefen ihrer Handtasche.
Noras Name blinkte auf dem Display.
Annes Herz schlug schneller. Was wollte denn Nora von ihr? Seit Noras letztem Versuch vor vier Wochen, mit Anne Kontakt aufzunehmen, hatte sie sich nicht mehr gemeldet. Unterdessen hatte Anne Nora erfolgreich aus ihrem Gedächtnis verbannt. Erst jetzt wurde ihr deutlich, dass sie in letzter Zeit kein einziges Mal an ihren Seitensprung gedacht hatte. Nora war ihr einfach nicht mehr in den Sinn gekommen. Sie hatte dieses Abenteuer verdrängt.
Anne war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihren Alltag zu organisieren, ohne dabei jede Sekunde an Caro zu denken.
Zögernd drückte sie auf den grünen Hörer. »Hallo?« flüsterte sie. Anne hörte Noras leisen, gleichmäßigen Atem.
Es herrschte ein langes Schweigen in der Leitung.
»Hallo?« sagte Anne noch einmal lauter in den Apparat.
Ein verhaltenes Räuspern kam zurück. »Ich bin es. Nora. Ich wollte so gern deine Stimme hören.« Sie klang überraschend zerbrechlich.
Anne musste schlucken, ihre Kehle wurde trocken, ihre Zunge klebte an ihrem Gaumen fest. Sie war nicht imstande, ein Wort über die Lippen zu bringen.
Statt dessen fuhr Nora fort: »Können wir uns wiedersehen?« Von ihrem sonst so selbstsicheren Ton war nichts mehr übriggeblieben. Sie wirkte beinahe verzweifelt.
Anne atmete tief ein, um den Kloß in ihrem Hals zu verdrängen. »Hör zu. Es war sehr aufregend mit dir. Aber wir werden uns nie wiedersehen. Es hat nichts mit dir persönlich zu tun, aber mir ist klargeworden, wo ich hingehöre. Dieses Abenteuer mit dir hat alles zerstört, was mir wichtig war. Wir haben keine gemeinsame Zukunft. Das musst du verstehen. Ich wünsche dir alles Gute.«
Nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, fühlte
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