Verirrte Herzen
eine Hand auf Annes Schulter gelegt. »Ich hoffe, es geht Ihnen wieder besser. Lassen Sie es ruhig angehen, und wenn Sie Probleme haben, melden Sie sich bei mir. Wir finden eine Lösung«, zeigte er überraschend viel Verständnis für Annes Situation.
Durch diese aufmunternden Worte beruhigt, schaffte Anne ihre Arbeit ganz gut. Sie war sich sicher, dass die meisten Patienten und Patientinnen kaum bemerkten, dass sie nicht ganz bei der Sache war. Dennoch war sie froh, als sie endlich Feierabend machen konnte.
Lilly war nach dem Kindergarten mit zu einer Freundin gegangen, und Nadine war noch arbeiten. Anne kochte sich eine Tasse Kaffee und machte es sich allein auf dem Sofa gemütlich.
So richtig wusste Anne nichts mit sich anzufangen. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Nadines Wohnung war schön, aber wirklich zu Hause fühlte sie sich hier nicht.
Irgendwann beschloss sie den Fernseher einzuschalten, um zu sehen, ob sich ein geeignetes Ablenkungsprogramm fand. Anne nahm die Fernbedienung und zappte gedankenverloren durch die Sender.
Die Töne einer klassischen Melodie erklangen und fesselten ihre Aufmerksamkeit. Eine schmale Eisläuferin in glitzerndem Kostüm glitt anmutig auf ihren Kufen über die Eisfläche. Mit einer gekonnten Pirouette wirbelte sie um sich selbst, sprang in die Höhe und drehte sich mehrfach in der Luft, um anschließend sicher zu landen.
Anne starrte den Bildschirm an. Statt der Eisprinzessin sah sie Caro, wie sie mit ihr Hand in Hand über den See im Sauerland geschlittert war. Es war der Tag gewesen, bevor Lilly in den Kindergarten gekommen war, ein Tag, an dem ihr Leben noch in perfekten Bahnen verlaufen war. Sie hatte diesen Tag so sehr genossen.
Anne erinnerte sich daran, wie Caro damals vor ihr stehengeblieben war. Sie konnte die Szene in allen Einzelheiten sehen. Caro hatte so wunderschön ausgesehen mit ihrer grauen Wollmütze, unter der ein paar Strähnen ihrer blonden Haare hervorgeblitzt hatten. Ihre blauen Augen hatten Anne verliebt angefunkelt. Noch immer spürte Anne dieses Kribbeln in jeder Zelle ihres Körpers. Dann hatten sie sich geküsst, ihre weichen Lippen hatten sich zärtlich vereinigt. Nichts auf der Welt hatte ihnen etwas anhaben können. Sie waren füreinander bestimmt gewesen.
Wie versteinert saß Anne auf der Couch, als Nadine nach Hause kam.
»Was ist denn mit dir los?« Nadine sah ihre Freundin besorgt an. Sie setzte sich neben Anne und nahm sie behutsam in die Arme. Zärtlich strich sie ihr durch die Haare.
Der Fernseher lief immer noch. Mittlerweile wurden die Siegerinnen gekürt. Nadine konnte sich keinen Reim darauf machen, was passiert war.
Minutenlang schwiegen sie. Anne rührte sich nicht von der Stelle. Dann durchbrach sie die Stille. »Sie fehlt mir so sehr«, war alles, was sie über ihre Lippen brachte, ehe Tränen ihre Stimme erstickten.
Das erste Mal seit zwei Wochen wollte Nadine abends wieder einmal ausgehen. Bevor Anne bei ihr eingezogen war, war sie fast jedes Wochenende auf der Piste gewesen und häufiger auch unter der Woche ausgegangen.
»Ich würde heute Abend gern in die Mondbar gehen. Möchtest du mich vielleicht begleiten?« Nadine sah Anne fragend an. Eigentlich hatte sie eine Verabredung in der Bar. Sie hatte auf der Arbeit zufällig eine attraktive Frau kennengelernt, die sie für den heutigen Abend eingeladen hatte. Aber ihre beste Freundin würde sie auf keinen Fall allein zu Hause lassen, wenn sie das nicht wollte.
Anne legte grübelnd die Stirn in Falten und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Aber ich denke eher nicht. Außerdem muss ja auch eine auf Lilly aufpassen.«
Daran hatte Nadine gar nicht gedacht. »Das stimmt, das habe ich ganz vergessen. Tut mir leid.« Sie lächelte Anne entschuldigend zu. »Aber wenn du nicht allein sein möchtest, bleibe ich natürlich bei dir. So wichtig ist es auch nicht.«
Nadine war wirklich süß. Anne schätzte sich sehr glücklich, eine so aufmerksame Freundin zu haben. Doch sie wollte Nadine nicht für sich allein beanspruchen, sie hatte schließlich auch ein eigenes Leben. »Das ist kein Problem. Geh nur und amüsier dich gut. Du hast lange genug meine Seelentrösterin gespielt.« Anne zwinkerte ihr zu. »Aber es hat doch sicherlich einen Grund, dass du heute Abend in die Bar willst, oder?« Erwartungsvoll ruhten Annes Augen auf ihrer besten Freundin.
Nadine musste grinsen. Eigentlich hatte sie nicht vorgehabt, Anne von ihrer Verabredung zu berichten. Sie
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