Veritas
Chormeisterin, dieweil sie sich vor das Kind stellte und es aufmerksam betrachtete.
«Ich hab’s ja gewusst. Großzügig wie immer …»
Die plötzliche, scharfe Bemerkung Cloridias ließ mich vor Scham erröten; schon fürchtete ich, wir würden recht bald aus dem Haus gejagt werden, doch das Opfer reagierte mit einem Lachen:
«Ich sehe, dass Ihr uns gut kennt», antwortete sie, ohne im Geringsten beleidigt zu sein, «doch ich versichere Euch, dass die sprichwörtliche Knauserigkeit meiner Mitschwestern nichts damit zu tun hat. Dinkelsuppe mit gemahlenen Pflaumenkernen heilt jede Lungensucht.»
«Auch Ihr kuriert mit Dinkel», bemerkte Cloridia nach einem Augenblick des Schweigens mit tonloser Stimme, «wie meine Mutter.»
«Wie es uns seit den fernen Zeiten unserer heiligen Schwester Hildegard, der Äbtissin von Bingen, überliefert ward», stellte Camilla mit einem reizenden Lächeln richtig. «Aber es freut mich aufrichtig, dass auch Eure Mutter den Dinkel zu schätzen wusste; vielleicht erzählt Ihr mir eines Tages von ihr, so es Euch beliebt?»
Cloridia fiel in ein feindseliges Schweigen.
Diese Camilla de’ Rossi war wirklich liebenswert, dachte ich, trotz des Misstrauens meiner Frau. Sie war in ein weißes Gewand gekleidet, die Ärmel mit einem feinen, schneeweißen Indischleinen überzogen, die Haube aus demselben Stoff, dahinter ein Schleier aus schwarzem Crepon.
Das Gesicht, das Haube und Schleier frei ließen, hätte man wahrlich keiner der beiden Physiognomien zuordnen können, welche jungen Ordensschwestern (oder Laienschwestern, da war kaum ein Unterschied) eigentümlich sind: Camilla hatte weder den wässrigen, blöden Blick, der von feisten und wie Schinkenspeck glänzenden Wangen umrahmt wird, noch die zwei harten, zornigen, in ein fahlgelbes, hageres Gesichtsfleisch gebohrten Äuglein. Sie war eine gesunde, anmutige junge Frau, deren große, dunkle Augen mit dem stolzen und samtweichen Blick und deren flinker Mund mich an die Züge gemahnten, die meine Gemahlin noch vor wenigen Jahren gehabt.
Wieder klopfte es.
«Euer Mittagessen kommt», kündigte die Chormeisterin an, während sie zwei Dienstmädchen mit Tabletts öffnete.
Seltsamerweise war die gesamte Mahlzeit auf der Grundlage von Dinkel zubereitet: Brotfladen aus Dinkel und Kastanien, Kompott aus Äpfeln und Dinkel, Auflauf aus Dinkelkörnern und Fenchel.
«Jetzt müsst Ihr euch sputen», mahnte Camilla, nachdem wir uns gestärkt hatten, «Ihr werdet in einer halben Stunde beim Notar erwartet.»
«Ihr wisst also …», wunderte ich mich.
«Ich weiß alles», beschied sie mich knapp. «Ich habe bereits dafür gesorgt, dass der Notar von Eurer Ankunft benachrichtigt wird. Los, eilt Euch, ich kümmere mich um den Kleinen.»
«Ihr erwartet doch nicht im Ernst, dass ich meinen Sohn in Euren Händen lasse?», protestierte Cloridia.
«Wir sind alle in Gottes Hand, meine Tochter», versetzte die Chormeisterin, welche dem Alter nach unsere Tochter hätte sein können, in mütterlichem Tonfall.
Kaum hatte sie das gesagt, schob sie uns mit sanfter Entschlossenheit zur Tür.
Ich flehte Cloridia mit Blicken an, sich nicht zu wehren und auch keine weitere unhöfliche Bemerkung gegen die Gattung der Bräute Christi fallenzulassen.
«Alles, damit ich nur ja keinen Ruß mehr sehen muss», sagte sie.
Ich dankte Gott, dass meine Gattin wegen ihres Hasses auf das Gewerbe der Schornsteinfeger endlich nachgab. Vielleicht hatte diese junge Ordensfrau, der die Gesundheit unseres Kleinen so am Herzen zu liegen schien, sogar schon begonnen, eine Bresche in die Mauer aus Misstrauen zu schlagen, mit der Cloridia sich umgab.
Am Ausgang fanden wir den Idioten des Klosters vor, der an die Wand gelehnt auf uns wartete. Die Chormeisterin warf ihm einen raschen Blick des Einverständnisses zu.
«Das ist Simonis. Er wird Euch zum Notar bringen.»
«Ich bitte um Verzeihung, ehrwürdige Mutter», versuchte ich einzuwenden, «ich kann noch nicht besonders gut Deutsch, und was dieser Mensch zu mir sagt, verstehe ich nicht. Auch vorhin, bei unserer Ankunft …»
«Es ist kein Deutsch, was Ihr gehört habt: Simonis ist Grieche. Und wenn er will, kann er sich durchaus verständlich machen», erklärte sie lächelnd und verriegelte, ohne ein weiteres Wort, das Tor hinter unserem Rücken.
«Sehr großzügig, diese Schenkung des Abbé Milani, o ja, nicht wahr?»
Der in pfleglichem Italienisch und nur beim Namen Melanis fehlerhafte Satz, mit dem uns der Notar,
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