Veritas
Hilfsbereitschaft überdies keinen Dank erwiesen.
Wie ich mit der Zeit nur allzu gut lernen sollte, verwechseln die Wiener bei Fremden ungenügende Kenntnisse ihrer Sprache mit einem Mangel an Gesittung und Scharfsinn.
Die harsche Reaktion des Notars ließ meine geschwächte Frau verstummen. Ohnehin war sie eingeschüchtert durch die Furcht, ihn zu verärgern und damit Schwierigkeiten heraufzubeschwören, die uns den Zugang zu der ersehnten, rätselhaften und nunmehr in unmittelbarer Reichweite befindlichen Schenkung Attos verwehren würden.
Welche Art Meister war ich geworden? Worin bestand das Gewerbe, dessen Ausübung der Kaiser mir gnädig gewährt hatte, obwohl ich kein Wiener Bürger war? Vor allem aber, welche Dienste benötigte der gütige Herrscher von mir mit so großer Dringlichkeit?
«Ihr müsst ein tugendhaftes Leben ohne jeden Makel führen, um Euren Pflichten aufs beste nachzukommen und den Gesellen zum Vorbild und Exemplum zu gereichen», hub er wieder geheimnisvoll an. «Und dies ist noch nicht alles: Wie Ihr im Kauff-Contract lesen könnt, den Herr Abbé Melani hochherzig in Eurem Namen abgeschlossen hat, sind hier Haus, Hof und Weingarten aufgeführt! Welch unvergleichliche Generosität! Doch halt, wir sind endlich angekommen. Gerade noch rechtzeitig vor der Dämmerung.»
Tatsächlich schwand das Licht rasch. Zwar war es noch früher Nachmittag, doch in den nördlichen Gefilden fällt die Dunkelheit sehr früh und nahezu ohne Vorwarnung ein, insbesondere im Winter. Dies also war der Grund für die Eile, die der Notar in seiner Kanzlei an den Tag gelegt hatte.
Ich wollte gerade fragen, worin die drei Dinge bestanden, welche im Kaufvertrag aufgelistet waren, als die Kutsche zum Halten kam. Wir stiegen aus. Vor uns stand ein eingeschossiges, scheinbar unbewohntes Häuschen. Am Eingang hing ein blitzblankes, neues Schild mit einer Aufschrift in Fraktur.
« Gewerbe JD », las der Notar für uns. «Ach ja, ich vergaß, die Sache genauer zu spezifizieren: Euch gehört das Gewerbe Numero vier der siebenundzwanzig derzeit in der Kaiserlichen Hauptstadt und Umgebung konzessionierten Gewerbe, und es ist eines der fünf, welche kürzlich auf Wunsch Ihro Kaiserlicher Majestät Joseph I. mit Privilegium vom 19. April 1707 in den ehrwürdigen Rang städtischer Gewerbe erhoben wurden. Eure Hauptaufgabe bleibt natürlich, in Eurer Eigenschaft als Hofadjunkt die pressanten Bedürfnisse des Kaisers zu befriedigen: Euch wird die Pflege und Verantwortung für ein altes kaiserliches Gebäude anvertraut, welches unser gütiger Herrscher in seinem ursprünglichen Glanze wiederherzustellen gedenkt.»
Auf diese letzte Eröffnung des Notars hin kehrte Cloridia, die sich mit finsterer Miene hinter uns herschleppte, beobachtet nur von Simonis’ leerem Blick, schlagartig zu ihrer stolzen Haltung zurück und schritt schneller voran. Auch ich begann, wieder Hoffnung zu schöpfen: Wenn das Gewerbe, das Atto für uns gekauft hatte und dessen Meister ich werden sollte, von niemand Geringerem als dem Kaiser höchstpersönlich eingerichtet worden war und es in der ganzen Stadt eine sogar per Dekret festgesetzte Anzahl davon gab, mir überdies – mit höchster Dringlichkeit! – die Pflege von nichts Geringerem als einem kaiserlichen Gebäude anvertraut wurde, konnte es sich gewiss nicht um eine Bagatelle handeln.
«Nun, Herr Notar», fragte meine Gattin mit honigsüßer Stimme und zeigte ihr erstes Lächeln an diesem Tag, «mögt Ihr uns endlich sagen, worum es sich handelt? Worin besteht die Tätigkeit, welche mein Mann, dank der Großzügigkeit des Abbé Melani und der Güte Eures Kaisers, die Ehre haben wird, in dieser herrlichen Stadt Wien auszuüben?»
«Oh, pardon, meine Dame, ich dachte, das wäre Euch bereits klar: Rauchfangkehrermeister.»
«Wie bitte?»
«Wie sagt man auf Italienisch? Rauchfegemeister … nein … Rohrfeger … Ach ja: Schornsteinfeger.»
Wir hörten einen dumpfen Aufprall. Cloridia war ohnmächtig zu Boden gesunken.
Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn
Donnerstag, den 9. April 1711
ERSTER TAG
11. Stunde, wenn Handwerker, Sekretäre, Sprachlehrer, Priester, Handelsdiener, Lakaien und Kutscher zu Mittag speisen
Gierig schlürfte ich einen heißen Kräuteraufguss, betrachtete von Zeit zu Zeit den spielenden Knaben und blätterte derweil im Neuen Crackauer Schreib-Calender auf das Jahr 1711 , der mir zufällig in die Hände gefallen war. Bald würde es Mittag schlagen, und soeben hatte
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