Veritas
hatte ein neues Leben für meine Familie und mich begonnen, in der Hocherhabenen Kaiserlichen Residenzstadt, wo man sich, wie Kardinal Piccolomini einst verwundert bemerkt hatte, auch beim Betreten der bescheidensten Häuser in einem Fürstenpalast wähnen musste und wo Tag für Tag eine schier unglaubliche Menge an Lastkarren durch die massiven, wehrhaften Mauern in die Stadt fuhr: Wagen voller Eier, Krebse, Brot aus Mehl, Fleisch, Fisch, Geflügel sonder Zahl, über dreihundert Karren randvoll mit Wein. Und wenn der Abend anbrach, war alles verschwunden. Atemlos beobachteten Cloridia und ich das gierige, leiblichen Genüssen ergebene Volk, das an jedem Sonntag verzehrte, was wir uns in Rom in einem Jahr hätten erarbeiten müssen. Zu solcher Opulenz, zu diesem ewigen, üppigen Bankett waren auch wir jetzt geladen.
Atto Melanis Großzügigkeit war in Wahrheit einer glücklichen Fügung zu verdanken: Ihre Kaiserliche Majestät Joseph I. wünschte nämlich, ein altes Gebäude restaurieren zu lassen, das vor den Toren Wiens lag, und er benötigte einen Schornsteinfegermeister zur Erneuerung der Rauchabzüge sowie zur Verbesserung der Sicherheitsvorkehrungen gegen die Feuersbrünste, welche sich offenbar in immer rascherer Folge häuften. Kurz nach meiner Ernennung hatte es allerdings wiederholt starke Schneefälle gegeben, was den Beginn meiner Arbeit verzögert hatte, und überdies war ein Teil des Gebäudes eingestürzt, wodurch einige Maurerarbeiten notwendig wurden. Heute sollte ich die kaiserliche Besitzung endlich zum ersten Mal in Augenschein nehmen.
Eines nur blieb mir unverständlich: Warum hatte der Kaiser nicht einen der vielen anderen Rauchfangkehrermeister des Hofes, welche sich schon um die zahlreichen königlichen Residenzen kümmerten, mit dem Amte beauftragt?
Abbé Melani hatte in unserem Namen ein eingeschossiges Häuschen bei der Michaelerkirche in der Josephstadt erworben und sogar jene Aufstockungsarbeiten veranlasst, deren Abschluss wir erwarteten: Bald sollten meine Familie und ich den großen Luxus genießen, ein eigenes Häuschen zu besitzen, darin das Erdgeschoss für das Gewerbe und das erste Stockwerk für die Wohngemächer bestimmt waren. Ein wahrer Traum war das für uns, nachdem wir in Rom so tief gesunken waren, dass wir zusammen mit einer anderen armen Familie in Kellerräumen aus Tuffstein hausen mussten …
Jetzt aber hatten wir unseren beiden Jungfräulein, die dort unten geblieben waren, sogar ansehnliche Summen Geldes schicken können und planten, sie nach Wien kommen zu lassen, sobald die Arbeiten an unserem neuen Haus beendet waren.
Atto hatte in seiner Schenkung außerdem den Lohn für einen Hauslehrer vorgesehen, der den Knaben Italienisch lesen und schreiben lehren sollte, «sintemalen das Italiänische», so schrieb er in seinem Begleitbrief, «eine weitverbreitete Sprache, ja sogar das offizielle Idiom des Kayserlichen Hofes ist, wo man fast nichts anderes spricht. Wie schon sein Vater und sein Großvater pflegt der Kaiser italiänische Predigten zu hören, und die Cavalieri dieses Landes haben eine so tiefe Neigung zu unserer Nation gefasst, dass sie einander zu übertreffen suchen in ihrem Bestreben, nach Rom zu reisen und sich dortselbst unsere Sprache zu eigen zu machen. Und wer ihrer kundig ist, genießt im ganzen Reiche hohe Wertschätzung und hat keine Erfordernis, die lokalen Idiome zu lernen.»
Ich war Melani unendlich dankbar, obwohl es mich ein wenig gekränkt hatte, dass ich in seinem Brief kein persönliches Wort, keine Nachricht über sein Befinden, keinen Ausdruck der Zuneigung gefunden hatte. Doch vermutlich, so dachte ich, war der Brief von seinem Sekretär verfasst worden, da Atto zu alt und wahrscheinlich zu krank war, um sich mit derartigen Nebensächlichkeiten zu befassen.
Ich für meinen Teil hatte ihm natürlich einen Brief voll des Dankes und der Bekundungen meiner Treue zurückgeschrieben. Sogar Cloridia hatte ihr jahrelanges Misstrauen gegen Atto überwunden und ihm einige Zeilen gerührter Dankbarkeit geschickt, zusammen mit einer erlesenen Häkelarbeit, der sie sich wochenlang eifrig gewidmet hatte: ein warmes, weiches Schultertuch nach Art eines flandrischen Gambellotto , in Gelb und Rot, den Lieblingsfarben des Abbés, mit aufgestickten Initialen.
Wir hatten keine Antwort auf unsere Dankesbezeugungen erhalten, aber angesichts seines fortgeschrittenen Alters wunderte uns das nicht.
Der Kleine befleißigte sich nun darin, einfache Sätze
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