Veritas
schlimmer noch, verbrannt in einem Rauchabzug, der Feuer gefangen hatte. Wer konnte das wissen? Zwar erfüllte Atto mit dieser Schenkung ein Versprechen, grübelte ich mit schwankenden Gefühlen; doch wenn ich ihn nie gekannt hätte, wäre ich dann nicht trotzdem an der Hungersnot von 1709 und dem Verfall der Familie Spada, meiner Brotherren, gescheitert?
Wien und Rom, Rom und Wien: Unversehens entwirrte sich mir im Geiste jener verborgene, rote Faden meines Lebens. Vor achtundzwanzig Jahren, als sich in Wien die Zukunft Europas entschied, sollte die Begegnung mit Abbé Melani in jener kleinen Locanda, zwei Schritt von der Piazza Navona entfernt, für immer mein Leben verändern. Er hatte mich unterwiesen in den Geheimnissen und Listen der Politik, der staatlichen Intrige, der dunklen facies des menschlichen Daseins. Er hatte mich rechtzeitig aus der blinden Einfalt gerettet, zu der ich andernfalls verdammt gewesen wäre. Indem er mich das Böse in der Welt lehrte, hatte er mich schließlich dazu gebracht (obwohl das nicht seine Absicht gewesen war), dieses Böse zu fliehen, den eitlen Jugendtraum aufzugeben, Gazettenschreiber zu werden, und mich stattdessen auf die wichtigen Dinge des Lebens zu besinnen: die Familie, die Liebe zu den Meinen, ein bescheidenes, tugendhaftes Dasein, von Gottesfurcht bestimmt.
Doch im Laufe der Zeit hatte er mich immer wieder für seine Zwecke ausgenutzt und betrogen. Stets war ich sein gefügiges, unwissendes Werkzeug gewesen, denn ich hatte ihm geholfen, seine Machinationen zugunsten des Königs von Frankreich durchzuführen. Er hatte das von mir bekommen, was ihm zustattenkam: Unterstützung, Rat, sogar Zuneigung.
All das schien sich jetzt geändert und sogar in sein Gegenteil verkehrt zu haben. Ich war nicht mehr der einfältige Jüngling unserer ersten Begegnung und auch nicht mehr der noch junge Familienvater, den er bei seiner Rückkehr nach Rom angetroffen hatte. Ich war ein reifer Mann von achtundvierzig Jahren, abgehärtet gegen alle Mühen des Lebens. In diesem Wien, das bei unseren ersten Abenteuern vor fast drei Jahrzehnten eine so große Rolle gespielt hatte, war ich endlich entschädigt worden für all das, was Atto Melani mir genommen oder ins Blaue hinein versprochen hatte. O Gott, sollte dies alles denn wirklich tragisch am Galgen enden?
Nachdem ich Verzweiflung und Zorn, tausend Gewissensbissen und ebenso vielen Seelenqualen freien Lauf gelassen hatte, schüttelte ich, wie die Gans, die aus dem Teich steigt und mit den Flügeln wedelt, um sich zu trocknen, alle Erinnerungen von mir ab und dachte wieder über die Gegenwart nach. Das Unwohlsein, das der alte Kastrat soeben gezeigt hatte, schien keine Verstellung zu sein: Mit eigenen Augen (und nicht zuletzt mit der Nase …) hatte ich mich von dem erbarmungswürdigen Zustand überzeugen können, in den die Nachricht von der Erkrankung des Erlauchten Kaisers ihn versetzt hatte. Und hatte ich nicht auch gehört, wie Atto mir mit leidenschaftlicher Emphase das Heldentum Josephs des Sieghaften beschrieb? Ja, zuvor noch, an jenem Tage, an dem wir uns im Kaffeehaus Zur Blauen Flasche wiederbegegnet waren, hatte er mir da nicht in düsteren Farben den schmählichen Niedergang Frankreichs und das Scheitern der selbstgefälligen Regentschaft Ludwigs XIV. ausgemalt, um stattdessen Wien und die Habsburger in den Himmel zu loben? Das waren gewiss nicht die Reden eines Feindes Österreichs. Es sei denn …
Es sei denn, er hätte mir all diese Vorträge absichtlich gehalten, um mich zu täuschen und meinen Argwohn von sich abzulenken.
Ich sank nicht in den Schlaf, nein, ich fiel fast in Ohnmacht, als mir Hristos Schachbrett unversehens aus den Händen fiel und aus dem doppelten Boden ein Zettel zum Vorschein kam:
SCHAH MATT
SCHACHMATT
DER KÖNIG IST ERLEDIGT
Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn
Montag, den 13. April 1711
FÜNFTER TAG
Es schlug bereits Mitternacht, als ich zu Simonis eilte. Ich stürzte in sein Zimmer und riss ihn aus dem Schlummer.
«Wir müssen deine Kameraden suchen», hub ich an, «und zwar so schnell wie möglich. Ich werde sie auszahlen und ihnen befehlen, mit den Nachforschungen aufzuhören: Es ist zu gefährlich.»
Ich erzählte ihm von der plötzlichen Erkrankung des Kaisers, von meinem Verdacht, man könne ihn vergiften (Attos mögliche Beteiligung verschwieg ich jedoch), und zeigte ihm den Zettel mit der Handschrift des armen Hadji-Tanjov.
«Der König ist erledigt», las der
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