Veritas
habt Ihr mir verschwiegen, den wichtigeren, nämlich dass der Kaiser aus dem Weg geräumt werden soll! Ihre Kaiserliche Majestät Joseph I. hat keine männlichen Nachkommen. Wenn er stürbe, wäre der Thronerbe mithin sein Bruder Karl, welcher Philipp von Anjou, dem Enkel des Sonnenkönigs, seit zehn Jahren mit Waffengewalt den spanischen Thron streitig macht. Wenn Joseph stirbt, muss Karl augenblicklich nach Wien zurückkehren, um Kaiser zu werden, und dann ist Schluss mit dem Krieg! Eugen hat bereits Verrat begangen: Selbst wenn Österreich wollte, könnte es dann weder einen König noch einen General nach Spanien schicken. Auf dem Thron von Madrid säße für immer der Enkel Eures Herrschers. Ein perfekter Plan! Darum also ist der Kaiser erkrankt. Von wegen Blattern: Ihr Franzosen, seit eh und je Komplizen der Türken, habt ihn vergiften lassen.»
«Der Kaiser ist krank? Aber was redest du da, Junge?»
«Und die Krankheit, welch ein Zufall, beginnt im Kopf … just in dem Kopf, um den der Derwisch sein Komplott schmiedet! Oder ist das alles nur Zufall? Und wer soll Euch das glauben? Ich gewiss nicht, denn ich kenne Euch, leider! Wie konntet Ihr das nur tun? In Eurem Alter! Habt Ihr denn immer noch kein bisschen Gottesfurcht?», fragte ich, und die Stimme brach mir.
«Ich begreife nicht, woher du …», protestierte Atto, der sich mit der Hand den Bauch hielt.
«Und glaubt ja nicht, ich hätte vergessen, dass Philipp von Anjou dank eines gefälschten Testaments zum König von Spanien ernannt wurde. Ihr wart es, Ihr habt das Testament gefälscht, vor elf Jahren, direkt vor meiner Nase!»
«Herr Onkel, Ihr dürftet ihm nicht gestatten …», sagte Domenico.
«Von wegen Großzügigkeit und Belohnung!», fuhr ich dem Neffen mit neuentfachtem Zorn ins Wort. «Wohnung und Arbeit habt Ihr mir hier in Wien nur verschafft, um erneut meine treuen Dienste auszunutzen und Euch dann im rechten Moment aus dem Staube zu machen, wie Ihr es schon zweimal in Rom getan habt! Diesmal aber müsst Ihr eine noch schändlichere Tat begehen: den Kaiser umbringen, einen jungen Mann von nicht einmal dreiunddreißig Jahren! Darum habt Ihr mich zum reichen Mann gemacht. Ihr wolltet mich kaufen. Aber das wird Euch nicht gelingen, o nein! Diesmal kriegt Ihr mich nicht. Es gibt keinen Preis für das Leben meines Königs! Ich werde nach Rom zurückkehren und wieder im Tuffsteinkeller hungern, aber nicht, bevor ich alles getan habe, um Eure schmutzigen Pläne zu vereiteln. Über meine Leiche müsst Ihr gehen!»
«Aber gütiger Himmel, Junge, du darfst nicht … Domenico, ich bitte dich!», flehte Atto, der immer noch mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Bauch drückte und nun Anstalten machte, sich zu erheben.
«Herr Onkel, da bin ich», rief der Neffe mitleidig, indem er herbeieilte, ihn zu stützen und hinter einen Vorhang zu fuhren, wo der Nachtstuhl für die körperlichen Bedürfnisse stand.
Hier hatte Abbé Melani eine schwere Kolik, ausgelöst vom sogenannten Nierengrieß und begleitet von diarrhöischen Entladungen und schmerzhaftem Aufbrechen der blinden oder güldenen Adern oder auch Hämorrhoiden. Urplötzlich sah ich mich ohne Gegner, vor allem aber in großer Verlegenheit. Ich bot meine Hilfe an, die Domenico hinter dem Zelt mit einem mürrischen Grunzen verweigerte.
«Der Kaiser … , das Gift …», hörte ich Atto röcheln.
«Herr Onkel, Ihr verliert sehr viel Blut, Ihr müsst unbedingt vom Zedernsaft trinken.»
«Ja, ja, mach schnell, ich bitte dich …»
Domenico schob den Vorhang beiseite und bat mich mit einem Wink, den alten Abbé, der verkrümmt auf dem Stuhl hockte, einen Moment lang zu stützen. Zum ersten Mal sah ich seine kastrierte Scham. Ohne auf mich zu achten, jammerte Atto weiter, während sein vulkanisches Gedärm sich nicht beruhigen wollte und auch die Goldadern nicht aufhörten zu bluten. Der Neffe stürzte aus dem Gelass und goss ein paar Tropfen aus einem Fläschchen in ein großes Glas frischen Wassers, das er dem Onkel eilig reichte.
«Also, ich glaube …», stammelte ich, im Begriff, mich zu verabschieden, um nicht länger zu stören.
Domenico aber vermeinte, ich wollte mit meinen Anklagen fortfahren, und schrie hinter dem Vorhang:
«Habt Ihr denn gar kein Mitleid mit einem armen alten Mann? Wollt Ihr ihn umbringen? Jetzt reicht es. Fort, geht, verschwindet!»
Nachdem man mich so vor die Tür gesetzt hatte, durchquerte ich aller Kräfte beraubt den Konvent und schleppte mich bis zu meinem
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