Veritas
Grieche langsam, ob mechanisch oder nachdenklich, konnte ich nicht beurteilen.
«Begreifst du, Simonis?», fragte ich, unsicher, ob ich in diesem Moment zu dem mir vertrauten Idioten oder zu dem aufgeweckten, scharfsinnigen Studenten sprach, den ich den vergangenen Tagen in ihm erkannt hatte. «Hristo hat dir gesagt, die Lösung des Satzes liege in den Worten soli soli soli , was wiederum mit dem Schachmatt zusammenhänge. Dank dieses Zettels verstehen wir endlich, was Hristo meinte: ‹Schachmatt› kommt von ‹Schah matt›, und das ist wohl Persisch, denn das Schachspiel ist, wenn ich nicht irre, auch in jener Gegend entstanden.»
«Und nach dem, was Hristo geschrieben hat, bedeutet ‹Schah matt› wörtlich ‹Der König ist erledigt»›, ergänzte der Grieche.
«Genau. Hristo muss beim Schachspielen eine Eingebung gehabt und begriffen haben, was den Satz des Agas mit dem Kaiser verbindet.»
«Zieht Ihr nicht etwas voreilige Schlüsse? Woher wissen wir, dass ‹Der König ist erledigt› sich wirklich auf Ihre Kaiserliche Majestät bezieht?»
«Auf wen denn sonst?», rief ich ungeduldig. «Der Aga ist nach Wien gekommen, hat diesen wunderlichen Satz von sich gegeben, sein Derwisch will den Kopf von jemandem, und zufällig erkrankt Joseph I. ausgerechnet jetzt …»
«Wie könnt Ihr denn so sicher sein, dass man ihn vergiften will? Und wenn es wirklich die Blattern wären?»
«Vertrau mir», entgegnete ich knapp.
Eigentlich hätte ich ihm sagen wollen: «Wenn Abbé Melani seine Hände im Spiel hat, geschieht nichts zufällig, vor allem aber stirbt niemand eines natürlichen Todes.»
«Welche Verbindung könnte es denn zwischen dem soli soli soli und ‹Der König ist erledigt› geben?»
«Nun, das ist noch unklar», räumte ich ein, «aber ich weiß inzwischen genug, um nicht noch mehr Studenten auf dem Gewissen haben zu wollen. Darum werde ich deinen Kameraden erzählen, was Cloridia von Ciezeber gehört hat. Ich möchte sicher sein, dass sie die Finger von der Sache lassen und sich nicht weiter damit beschäftigen, auch nicht aus bloßer Neugierde.»
Simonis wurde nachdenklich.
«Nun gut, Herr Meister», sagte er schließlich, «wir werden tun, was Ihr sagt. Diese Geschichte betrifft Euch. Morgen gehe ich zu meinen Freunden, um ihnen zu sagen, dass Ihr …»
«Nein, du suchst sie jetzt. Sofort. Ohne es zu wissen, riskieren sie jeden Augenblick, so zu enden wie Danilo und Hristo. Wen warnen wir zuerst, um diese Zeit?»
«Dragomir Populescu», antwortete mein Gehilfe nach kurzer Überlegung. «Bei dem Gewerbe, das er treibt, ist die Nacht seine Welt.»
Rasch durchforsteten wir alle Gegenden in den Vorstädten, wo musiziert und getanzt wurde: St. Ulrich, Neustift, die Jägerzeile, Lichtenthal und die Domkapitelgründe. Simonis hatte Penicek aus dem Bett geworfen und gezwungen, uns spornstreichs mit seiner Kalesche zu begleiten. Dank der geheimnisvollen Privilegien des Pennals waren wir aus den Stadttoren herausgekommen, indem wir den Wachen einfach einen «Obolus» zahlten, wie er es nannte.
Simonis hatte mir schon angedeutet, dass Populescu sich auf höchst prekäre Weise durchs Leben schlug – in dieser Nacht zählte er mir seine Beschäftigungen genau auf.
«Falschspieler beim Billard und mit gezinkten Karten, Spezialist im Manipulieren von Spielwetten, beim Würfeln, Boccia und so weiter. In seiner Freizeit illegaler Geiger.»
«Illegaler Geiger?»
Der Grieche erläuterte mir, dass Tanz und Musik in der Kaiserlichen Urbe kein so selbstverständliches und unschuldiges Vergnügen waren, wie es den Anschein hatte. Auch Pater Abraham a Sancta Clara hatte in seinen Predigten gewettert: «Ist nichts neues, daß gute Saitten die guten Sitten verderbt haben. Absonderlich beym Tantzen, bey welchem Springen die Ehr nicht selten gestolpert.»
Tatsächlich versuchten die Behörden seit etwa einem Jahrzehnt, Tanzveranstaltungen einzuschränken. Vor zwei Jahren hatte der Stadtrat den Kaiser sogar gebeten, sie abzuschaffen. Ausgenommen waren Hochzeiten, wo den Geigern gestattet war, bis um neun oder zehn Uhr abends zu spielen. Die Vorschrift wurde jedoch nicht eingehalten, im Gegenteil, es war eine regelrechte Tanzmanie zum fröhlichen Klang der Geigen ausgebrochen.
Unterdessen hatten wir ein Dutzend Lokale mit Orchester und Tänzern besucht: von Populescu keine Spur.
In den Bierbeisln, fuhr Simonis fort, während wir uns der nächsten Schänke näherten, hatte der Stadtrat ein absolutes Tanzverbot
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