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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Phänomen gewahrte: Wir hoben uns in die Lüfte.

    Doch zum ersten Mal hatte das Schiff Mühe aufzusteigen. Es erhob sich gerade genug, um die Mauern des Ballspielhauses zu überfliegen und uns aus dem Ort Ohne Namen zu bringen. Aber die Fahrt war kein sanftes Schweben. Kräftige Böen blähten die Segel auf und rissen das Schiff in die Höhe, saugende Winde zogen es wieder in die Tiefe. Auch die Bernsteine erzeugten nicht die gewohnte Harmonie, sondern ein misstönendes Konzert, daraus ein metallischer Klang entstand, ähnlich dem Schlachtenlärm vergangener Zeiten. Das Licht, das sie aussandten, wurde manchmal grau und fahl, wie das Antlitz eines Menschen, der grässlicher Dinge ansichtig wird. Vielleicht war es genau das, dachte ich. Zu viel Gräuel hatten sich um das Schiff herum ereignet: Simonis’ Tod, Palatinos Frevel, seine Ankündigung eines menschenverachtenden Zeitalters … Der Tod drückte dem Schiff schwer wie Ballast auf den Kiel. Eine Zeitlang schwankte es plump hin und her, dann ließ es sich wie ermattet auf den dunklen Feldern Simmerings nieder. Atto und ich blieben, zermürbt vom Schrei der vierzigtausend, im Schiff sitzen.
    Doch urplötzlich erstarb der Schrei der Märtyrer Kasims so unvermittelt, wie er begonnen hatte. Atto musste während meiner langen Abwesenheit längst begriffen haben, worum es sich handelte, und auf seinem hageren Gesicht las ich Hilflosigkeit und Staunen. Was Danilo Danilowitsch und Dragomir Populescu uns erzählt hatten, war also kein Hirngespinst: Die türkische Legende von den Vierzigtausend war die reine Wahrheit, zumindest war sie es in dieser Nacht geworden. Vielleicht war dann auch die Geschichte vom Goldenen Apfel nicht ganz und gar erfunden. Doch Abbé Melani hielt der Stolz desjenigen zurück, der sich im Besitz des Schlüssels zum Labyrinth des Daseins wähnt.
    Im Versuch, meine Gedanken zu sammeln, erzählte ich ihm, was Simonis widerfahren war. Ich hoffte, die übergroßen Gefühlsregungen, denen der Abbé erneut ausgesetzt war, würden ihn nicht lebensgefährlich bedrohen – noch war mir nicht bewusst, dass es meine eigene Seele war, der die grausamsten Wunden geschlagen wurden.
    «Es ist kein Zufall, dass ich just einen Tag nach der Ankunft der Türken und der Erkrankung des Kaisers nach Wien gekommen bin», sagte er plötzlich.
    «Was habt Ihr gesagt?» Ich erbleichte.
    Atto deutete ein bitteres Lächeln an.
    «Nicht, dass ich etwas gewusst hätte, keine Angst! Die Wahrheit ist, dass wir an einem Scheideweg der Geschichte stehen, und in Momenten wie diesem geschehen die absonderlichsten Dinge.»
    «Stimmt, die Menschheit steht vor einer entscheidenden Wende.»
    «Ich habe geglaubt, ich sei derjenige, der diese Wende herbeiführen könnte. Stattdessen bin ich verscheucht worden wie eine Fliege.»
    «Die neuen Mächte …»
    «Neu? Alt sind sie. Sie haben nur ihre Strategie geändert, und diese zahlt sich eher aus. Wollen wir Namen aus der Vergangenheit nennen? Die Fugger zum Beispiel, die erst Karl V. und dann Maximilian mit Hilfe ihres Büttels Ilsung den Aufstieg zum Kaiser finanzierten. Aber das ist unwichtig. Was zählt, ist ihre neue Methode: Der Kodex ihres Verhaltens ist nicht jener, den wir so gut kannten – die Regeln der Könige und ihrer Minister, der Diplomatie, der alten Konventionen –, sondern ein anderer, den keiner kennt außer ihnen. Kein General wird dem gegnerischen Kaiser mehr anbieten, sein Zelt im Feldlager nicht zu beschießen, wie Melac es während der Belagerung Landaus tat. Das ist für immer vorbei. Das Schachmatt ist abgeschafft. Von jetzt an tötet man auch den König des Gegners, der Derwisch hat es deinem Simonis genau erklärt.»
    Als ich den Namen meines Gehilfen hörte, hatte ich wieder vor Augen, wie er mich in den letzten Sekunden seines Lebens angeblickt hatte. Ich begann zu zittern.
    «Von wilden Tieren zerrissen … er ist gestorben wie ein christlicher Märtyrer», murmelte Atto plötzlich in sich hinein.
    «Wie bitte?»
    «Simonis. Du denkst an ihn, nicht wahr? Ich auch. Sein heldenhaftes Ende ist die Bestätigung: Er gehörte zum Widerstand gegen die neue Ordnung, die im Begriff ist, siegreich aus diesem Krieg hervorzugehen. Dein Gehilfe stand, um es mit Peniceks Worten zu sagen, auf der Seite Christi. Und wie einer der ersten Christen ist er zerfleischt worden. Aber auch du hast jetzt begriffen, dass er für ein Netz arbeitete, von dem du nichts wusstest und nie etwas wissen wirst. Wie die neuen Herrscher ohne

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