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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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beobachtete. Trotz des spärlichen Lichts konnte ich ein schwaches Lächeln auf seinem Gesicht erkennen, vielleicht war es ein Gruß. Ich begriff, dass er kurz davor war zu handeln und von mir das Gleiche erwartete.
    «Und wer sollte das tun?», erwiderte Ciezeber verächtlich, «deine Freunde etwa? Der Zwerg, dein Arbeitgeber, und Abbé Melani, diese Mumie?»
    Der Bogen der Möglichkeiten war bis zum Äußersten gespannt, gleich würde der Pfeil der Ereignisse losschießen. Es war der Augenblick, in dem, gewaltig und ohrenbetäubend, jener Ton einsetzte.

Käyserliche Haupt-
und Residenz-Stadt Wienn
Freitag, den 17. April 1711
NEUNTER TAG
Mitternacht: Noch drei Stunden bis zum ersten Schrei des Nachtwärters. Die Stadt schläft.
    Ein überwältigender Lärm, ein urzeitliches Klagelied aus Männerstimmen brach über die Simmeringer Haide herein. Es kam von überall her und breitete sich überall aus, ließ jede Erdkrume, jede Ähre, jeden Stein, jeden einzelnen Stern, der die Himmelskuppel besetzte, erzittern. Grausam durchdrang es meine Ohren, und ich musste mir die Hände schützend davorlegen, damit mein Trommelfell nicht von den Schreien zerfetzt wurde. Es war, als riefe die gesamte Schöpfung aus voller Kehle, als stimmten Erde, Himmel und Wasser einen kontrapunktischen Gesang an und psalmodierten auf Türkisch: Ja, in türkischer Sprache erklang die Litanei, und während Ciezeber über Simonis triumphierte, rief der unsichtbare Chor den Namen Allahs an, als würde ein neuer, titanischer Mohammed seine wilde Freude herausschreien, bevor er ganz Wien und Umgebung hinwegfegte. Und da entsann ich mich, was ich von den Studenten über den Goldenen Apfel erfahren hatte: Dies musste der Chor sein, von dem Dragomir Populescu uns berichtet hatte, der Chor, der verdammt war, an jedem Freitag erneut zu rufen «Wehe Euch, Allah, Allah!», wie damals in jener Nacht, als die vierzigtausend Männer Kasims in der Schlacht starben. Jetzt wiederholte sich das Blutbad, und die vierzigtausend schworen Rache. Während das ganze Universum sich über uns zu verschließen schien, erkannte ich, dass sich in dieser Nacht das Schicksal der Welt entscheiden würde.
    Dann war es, als würde der Horizont zerbersten, und der Ton wurde so quälend schrill, dass es nicht mehr genügte, sich die Ohren zu schützen. Wenngleich schwankend vor Schmerz, der mir Haupt und Ohren peinigte, erhob ich mich, und da sah ich es: Mein Gehilfe ließ sich in den Löwenkäfig fallen.

    Nur um sich Ciezeber nicht auszuliefern, hatte er sein Leben geopfert. Simonis, der schlichte Rauchfangkehrer, der Student mit der dümmlichen Miene, Simonis, der Grieche, hatte beschlossen, sein Leben als Held zu beenden. Lieber ließ er sich von den Löwen zerfleischen, als sein Geheimnis unter Folter preiszugeben. Entsetzt starrte ich in die Dunkelheit, und mit den Augen der Einbildungskraft sah ich, wie der schwarze Panther, der Schläge eingedenk, mit denen Simonis ihn am Vortage gedemütigt hatte, seine Fänge in Hals und Brust meines Gehilfen senkte. Er eröffnete das orgiastische Bankett, bei dem Simonis zerrissen und zerfleischt, seine Adern ausgesaugt, sein Menschenblut getrunken, seine Gelenke zerbrochen und seine Muskeln zerrissen wurden. Es war, als wolle die Natur ihre Lust auf eine Schlacht befriedigen, bei der die Rollen sich umkehrten, als müsse das Blut der vierzigtausend an Simonis allein gerächt werden, indem sich an seinem armen Körper die Wut zweier Heere austobte: eines aus der Vergangenheit, befehligt von Kasim, und eines aus der Gegenwart, angeführt von dem tückischen Panther des Ortes Ohne Namen.
    Unterdessen versuchte der Derwisch, der ebenfalls die Hände auf die Ohren gepresst hielt, mit unbeholfenen Bewegungen, seine Männer herbeizurufen, damit sie seiner Flucht aus dem Ort Ohne Namen Rückendeckung gaben.
    Meine Ohren schmerzten noch immer, doch es war an der Zeit zu handeln. Während das Hin und Her zwischen Ciezeber und seinen Folterknechten sich hinzog, kehrte ich zum Fliegenden Schiff zurück. Ich war so erschüttert über Simonis’ Tod, dass ich Abbé Melani fast vergessen hätte. Wiewohl mit ungelenken Bewegungen, gelang es mir, mich gerade noch rechtzeitig auf das Luftschiff zu hieven, als ich schon sein hölzernes Inneres in unregelmäßigen Rhythmen vibrieren spürte. Es war die einzige Rettung, wie ich gehofft hatte. Auch Atto hielt die Hände auf die Ohren gepresst, doch er nahm sie herunter, als er jenes nun schon fast vertraute

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