Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
Vom Netzwerk:
Menschen durch willentliche Ansteckung verübt worden. Wieder ergriff mich das Gefühl, dass ein Kreis sich schloss. Und fast schien es, als wollte er mir durch die Wiederholung ähnlicher Ereignisse zu verstehen geben, dass sich die wahre Bedeutung all dieser Erlebnisse bald offenbaren würde.
    Abbé Melani fiel unterdessen in einen dunklen, traumlosen Schlaf, wie ich an seinen Gesichtszügen erkannte. Ich legte meine Arme um ihn, damit mein Körper ihn wärmte.
    So lag ich auf den harten Balken des Schiffes, und während ich die Sterne betrachtete, kamen mir Simonis’ letzte Worte und die damit verbundene Aufgabe wieder in den Sinn. Ich fühlte, dass ich meinem heldenhaften Gesellen einen Versuch schuldete. Krampfhaft bemühte ich mich, den Augenblick zu vergessen, da er mir ein schwaches Lächeln zugeworfen hatte, um sich dann zwischen die Raubtiere in den Tod fallen zu lassen. Wenn wir den Bediensteten der Residenz das Komplott gegen Joseph aufdecken würden, würden sie uns gewiss für gefährliche Irre halten. Wir mussten anders vorgehen. Oh, wenn sich das Schiff doch nur wieder zum Fluge erheben würde! In meinem Wunschtraum lenkte ich es zur Kaiserlichen Residenz, wo ich, meine Wendigkeit als Schornsteinfeger nutzend, über die eisernen Leitersprossen hinabsteigen und in die Gemächer Ihrer Majestät Josephs des Sieghaften vordringen würde. Dort würde ich gut sichtbar, vielleicht auf dem Diwan eines Durchgangszimmers, einen genauen Bericht über das Komplott gegen Ihre Kaiserliche Majestät zurücklassen und eindringlich davor warnen, ihn den von Ciezeber beabsichtigten Inokulationen auszusetzen. Oder ich würde versuchen, mir bei einem Kammerherrn Josephs Gehör zu verschaffen oder … nun, so genau wusste ich das auch nicht, aber irgendetwas musste ich tun.
    In diesem Moment hob sich das Schiff mit einer letzten Kraftanstrengung (so wenigstens erschien es meinem verwirrten Geist) abermals in die Luft. Sofort sprang ich auf und schickte mich mit neuer Energie an, die Zugstangen zu bedienen, um das Schiff zur Kaiserlichen Residenz zu lenken. Doch kaum hatte ich sie berührt, spürte ich sie unter meinen Fingern wie toll knistern; gleichzeitig zuckte das Schiff ungebärdig. Ein jäher Ruck zwang mich, die Zügel (wenn wir sie so nennen wollen) meines geflügelten Streitrosses loszulassen, also gewährte ich ihm die Freiheit, sich, wie beim ersten Flug, allein zu lenken. Sogleich erschien es mir, als flöge es jetzt gleichmäßiger, und das tröstete mich. Doch leider nur kurz, denn das Fliegende Schiff steuerte nun, wie ich in den dunkelvioletten Nebeln zu erkennen meinte, geradewegs auf die Spitze des Stephansdoms zu. Und so war es. Während die Dächer und Plätze der Stadt unter uns vorbeizogen, sah ich den Turm immer näher kommen. Ich betete, dass keiner von den Brandwächtern der Stadt, welche den Dom Tag und Nacht im Auge behielten, unseren Segler erblickte und Alarm auslöste.
    «Nicht hierhin, verflixtes Schiff!», rief ich außer mir, «du weißt, wohin du fliegen musst!»
    Während unser Fahrzeug sich der Kirchturmspitze näherte, überfiel mich erneut die Vision von Simonis’ Tod. Das vom Schrei der vierzigtausend Märtyrer übertönte Brüllen der Raubtiere holte mich ein. Die Letzten Tage der Menschheit, die sich angekündigt hatten mit Opalinskis Tod, hatten Simonis verschlungen wie die Löwen, und jetzt spürte auch ich ihren Atem im Nacken. Einige Augenblicke lang hielt ich betäubt vor Angst inne. Da sah ich es.
    Anfangs glaubte ich, es handle sich um eine Halluzination. Obwohl seine Beschaffenheit nicht zur menschlichen Welt zu gehören schien, war der Gegenstand, den ich erblickte, doch genau so, wie ihn jetzt auch Atto sah: Der Abbé war erwacht, hatte sich erhoben und stand offenen Mundes neben mir.
    Es war eine goldene Kugel, wie ein Apfel so groß, die in der Luft schwebte. Keine Beschreibung könnte ihr Aussehen je vollständig wiedergeben; noch heute bleibt mir nur eine schwache Reminiszenz. Gewisser Träume erinnert man sich nur schwer, doch nicht wegen der Fehlbarkeit des Gedächtnisses, sondern weil sie nur in einem eigentümlich verfremdeten Geisteszustand zu leben vermögen. Sobald man versucht, sie ins Bewusstsein hinüberzunehmen, lösen sie sich auf wie Quallen, die an den Strand geschwemmt werden. In gleicher Weise machte auch mein verzweifelter Seelenzustand jener Stunden eine Erfahrung möglich, welche ich heute nicht mehr vollständig zu wiederholen vermag. Ich kann

Weitere Kostenlose Bücher