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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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Gesicht ist auch Simonis eine Figur der Zeiten, die da kommen werden. Wissen wir, wer er wirklich war? Nein. Penicek? Auch nicht. Und Ciezeber-Palatino-Ammon? Noch weniger. Und doch spielen sie und andere, ebenso anonyme Wesen, inzwischen mit Würfeln um die Welt. Die Zukunft liegt in der Hand dieser geheimen Netzwerke, ihre Mitglieder haben keinen Namen, keine Identität, kein Gesicht. Welch ein Glück, dass ich am Ende meiner Karriere angekommen bin, Junge: Es gibt keinen Platz mehr für Leute wie mich. Ich war Ratgeber des Königs, und Ihre Majestät hörte mich an, um dann zu entscheiden und seine Taten dem Urteil seiner Untertanen und der Geschichte auszusetzen. Die Welt bestand bisher aus Menschen. Bald aber wird sie von Regierungen gelenkt werden, die wie dieses Schiff funktionieren: wenn nötig, auch ohne Menschen an Bord. Erst jetzt habe ich das erkannt, weißt du? Der Hintergrundmann, nach dem ich so lange gesucht habe, existiert nicht. Es gibt keinen neuen Abbé Melani. Es gibt dort oben nur eine Gruppe, eine kollektive Intelligenz, wie ein Ameisenhaufen. Das sind keine Individuen mit einem unabhängigen Geist. Jeder für sich genommen ist ein Wicht, ein unbedeutendes Etwas. Nur im Rudel sind sie fürchterlich, wie die Hyänen. Wir haben gegen das Nichts gekämpft.»
    «Die Zeit des Menschen ist beendet, die Agonie der Welt hat begonnen: die Letzten Tage der Menschheit», sagte ich und wiederholte damit, was ich gedacht hatte, als wir die Leiche des armen Opalinski gefunden hatten.
    «Es ist ihnen gelungen, die Welt in Brand zu setzen, diesen Teufeln in Menschengestalt», sprach Atto weiter, und seine Stimme klang empört. «Und ich bin mit einer Friedensmission nach Wien gekommen – wie einfältig! Von wegen Frieden! Dieser Krieg ist nichts als ein lohnendes Geschäft mit Blut, um Beelzebubs Durst zu löschen. Und er wird nicht mit der Wiedergeburt enden, die man uns versprach, sondern mit dem größten Bankrott, den die Welt je erlebt hat.»
    Seine Worte bestürzten mich. Ich hatte ein verzweifeltes Bedürfnis, auf irgendetwas zu hoffen. Sonst hätte ich nicht weitermachen können. Das alles war zu viel für mich.
    «Aber wenn erst einmal Frieden herrscht …», deutete ich an.
    «Dann wird der Krieg von neuem beginnen», unterbrach mich Atto.
    «Aber alle Kriege haben bisher mit einem Frieden geendet!», rief ich.
    «Dieser hier nicht!», entgegnete der Abbé heftig. «Denn dieser Krieg hat sich nicht an der Oberfläche abgespielt, sondern im Inneren des Lebens selbst gewütet. Die Welt geht unter, und man wird es nicht wahrhaben wollen! Alles, was gestern war, wird vergessen werden. Man wird vergessen, dass man den Krieg verloren hat, vergessen, dass man ihn begonnen hat, vergessen, dass man ihn gekämpft hat. Darum wird dieser Krieg NIE-MALS EN-DEN!»
    «Aber wenn erst einmal Frieden herrscht?»
    «Man wird vom Krieg nie genug haben.»
    «Aber die Völker lernen, indem sie irren …»
    «Sie verlernen. Vielmehr: SIE VERHEEREN!», schloss der Kastrat mit einem gellenden Schrei, um sich zuletzt Tränen und Schluchzern zu überlassen. In einer Ecke des Schiffes kauerte er sich zusammen und schlug sich an die Brust wie eine arme Seele im Fegefeuer.
    Zum Ausbruch dieses unendlichen Krieges hatte Atto vor elf Jahren entscheidend beigetragen. Er, der geglaubt hatte, die Geschicke der Welt lenken zu können, war nicht mehr gewesen als eine Schachfigur in den Händen von Menschen wie Ciezeber. Genau das hatte er erst jetzt voll und ganz verstanden, und es verdammte ihn zur Verzweiflung.

    Ein schwacher Mond nur, den die Wolken fast gänzlich bedeckten, erhellte die Kuppel des Himmels. Zitternd vor Kälte hockte ich mich neben Atto. Ich hätte ihn an der Hand nehmen und mit ihm gemeinsam das Schiff verlassen müssen, doch ich fühlte mich innerlich zerbrochen. Die Schwärze der Nacht nahm mir alle Kräfte.
    Mir war, als würde ich nach Rom zurückversetzt, wo Atto und ich in Gesellschaft Ugonios an Bord einer zerbrechlichen Schaluppe die unterirdischen Flüsse der Heiligen Stadt durchpflügt hatten, bewaffnet nur mit einem Paddel und unserem Instinkt. Aber das war, wie sich herausgestellt hatte, lediglich eine der vielen Parallelen zwischen der gegenwärtigen Situation und den Fährnissen, die ich früher mit Abbé Melani durchlitten hatte: Wie jetzt hatte es auch vor achtundzwanzig Jahren in der Herberge einen Kranken gegeben, der vielleicht vergiftet worden war, und auch damals war ein Anschlag auf einen

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