Veritas
nur sagen, dass die Substanz der goldenen Kugel, die dicht vor dem Bug des Fliegenden Schiffes schwebte, etwas zwischen Dampf und Metall zu sein schien.
Und im Banne dieser unbegreiflichen Vision entsann ich mich plötzlich einer der vielen Prophezeiungen über den Goldenen Apfel, die wir in den vergangenen Tagen gehört hatten – es war diejenige Ugonios. Der Spanische Erbfolgekrieg, der in ganz Europa wütete, könne von Österreich nur gewonnen werden, wenn der ursprüngliche Goldene Apfel Justinians, jener, der die Herrschaft über den christlichen Okzident sicherte, wieder auf die höchste Spitze der heiligsten Kirche von Wien gesetzt würde: also den Stephansdom. Dort nämlich war eines Tages der Erzengel Michael erschienen und hielt der Überlieferung zufolge den Reichsapfel in der Hand, während er Luzifer mit seinem Schwert in Form des Heiligen Kreuzes vertrieb.
Ein Ruck fuhr durch das Schiff: Eine Windböe hatte das schwankende Gefährt gegen die Fiale der Turmspitze gestoßen. Aus dem Augenwinkel erspähte ich, wiewohl gefesselt vom Anblick der goldenen Kugel, die steinernen Locken und Voluten, welche die glorreiche Kathedrale schmückten.
«Was geht hier vor? Erst dieser Schrei … und jetzt der Apfel …», stammelte Abbé Melani mit bebender Stimme, auf meinen Arm gestützt. Auch er hatte begriffen, was die goldene Kugel war.
Aber ich hörte ihm nicht mehr zu. Denn nun fiel mir ein, dass sich auf der Fiale von Sankt Stephan, dem Bericht Ugonios zufolge, die sieben geheimnisvollen Worte befinden mussten, welche der Erzengel Michael eingeritzt hatte.
Und dies war der Moment, von dem an die Schatten des Vergessens meine Erinnerungen umhüllen und alles in einem ununterscheidbaren Magma verschwimmt: Ich versuche, mich hinauszulehnen, um auf der Turmspitze die Inschrift zu suchen; das Schiff schaukelt unter einer starken Windböe; ich verliere das Gleichgewicht; Abbé Melani, der an meiner Seite ebenfalls wankt, kauert sich erneut auf dem Boden des Schiffes nieder; ich stütze mich mit einem Ellenbogen ab und kann gerade noch verhindern, dass ich aus dem Schiff stürze. Endlos sind diese Sekunden, während deren ich in die Tiefe blicke, unter mir das irreale Bild des Stephansdoms, ein ungeheurer Wal aus Stein, der riesenhaft unter dem Dach der Kathedrale aufragt. Und dann wird das Strahlen des Goldenen Apfels plötzlich stärker, und während ich mich vor dem Sturz rette und mich wieder in das Schiff schwingen kann, verschwindet er in einer Spur leuchtenden Staubes.
Die Erscheinung war entrückt, und der Goldene Apfel war nicht auf den Stephansdom zurückgekehrt. Spanien würde unweigerlich in französische Hände fallen. Die Nacht, in der sich das Schicksal der Welt erfüllte, hatte ihre Bahn vollendet: Der Ausgang des Krieges stand bereits fest und mit ihm die Ereignisse der kommenden Jahre. Das also wollte das Fliegende Schiff uns sagen.
Nun blieb nur, sich seinem stummen Willen zu überlassen: sich zu ergeben, zu verzichten, sich zu entfernen, während der Donner am Himmel ein morgendliches Gewitter ankündigte. Wie ein großes Weinen der ganzen Welt würde es das Vorspiel der neuen Epoche sein: die Letzten Tage der Menschheit.
Als wollte es uns eine letzte Hilfe erweisen, landete das Fliegende Schiff erneut in den Weinbergen von Simmering, wenige Schritte vom Weinkeller des Klosters entfernt. Kaum waren wir ausgestiegen, erhob sich der gefiederte Segler wieder in den Äther und entfernte sich, freilich nicht in Richtung des Ortes Ohne Namen, sondern nach Westen. Ich sah, wie er davonschwebte, körperlos und still, bis er mit dem Horizont verschmolz. Das Schiff flog zurück ins Königreich Portugal, von wo es vor zwei Jahren gekommen war.
Mit den letzten mir verbliebenen Kräften schleppte ich den Abbé bis zum nahen Weinkeller. Ich weiß nicht, wie die kurzen Glieder des homunculus , der ich bin, das Gewicht des alten Kastraten noch heben konnten. Als ich mich gegen die Tür lehnte, wurde sie im selben Moment aufgerissen.
«Mein Liebster!», hörte ich jemanden rufen.
Ich erblickte Cloridia, bei ihr war Camilla de’ Rossi. Während die Chormeisterin Atto sofort Hilfe leistete, lächelte Cloridia mich mit tränenüberströmtem Gesicht an und umarmte mich heftig. Was tat meine Frau hier? Warum war auch Camilla de’ Rossi da? Suchten sie uns? Und woher wussten sie, dass wir ausgerechnet an diesem Ort zu finden waren? Nach Penicek und dem Palatino hatte ich nun gewiss keine Kraft mehr, die
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