Veritas
Kranke, Zigeuner, Bettler, herrenloses Gesindel, liederliche Personen, Spieler und Tagediebe. Seit die Türken zur ständigen Bedrohung geworden waren, vor allem aber seit der letzten Belagerung von 1683 hatte Leopold I., der Vater des jetzigen Kaisers, die Maßnahmen noch verschärft. Mit Ausnahme nur der Soldaten und ihrer Familien wurden alle Menschen, die innerhalb der Stadtmauern wohnten, regelmäßig erfasst. Zusätzlich kontrolliert wurde, wer mit Reisenden und Besuchern zu tun hatte. Wohnungsbesitzer, Zimmervermieter, Hoteliers, Wirtsleute und Kutscher: Niemand durfte einen anderen beherbergen, beköstigen oder vom einen Ort zum anderen bringen, ohne dessen Daten den Landmarschällen, Bürgermeistern, Gassen- und Viertelkommissären, der Sicherheits- und zuletzt auch der gefürchteten Inquisitionskommission mitzuteilen. Wer heimlich Fremde aufnahm, und sei es nur für eine Nacht, riskierte schwere Strafen, die mit einem saftigen Bußgeld von sechs Reichstalern begannen. Um zu verhindern, dass Fremde unentdeckt durch die Stadttore fuhren, indem sie vor den Mauern einfach von einer Landkutsche in einen kleinen Kobelwagen umstiegen, wurden auch Kärrner, Postkutscher und Fiakerlenker kontrolliert. Und das war nicht alles: Zuwiderhandelnden flößte man Angst ein, indem man zwei Geheimstationen einrichtete, wo verdächtige Reisende und ihre Komplizen anonym angezeigt werden konnten; eine im Rathaus in der Wipplinger Straße, die andere beim Hohen Markt.
Und trotz alledem war Abbé Melani ungestört nach Wien gekommen.
«Wie um alles in der Welt seid Ihr den Kontrollen entgangen?»
«Ganz einfach: Sie ließen mich den ‹Zettl› unterschreiben – so nennen sie dieses Papier, worauf sie die Daten verzeichnen –, und ich konnte passieren. Und glaube mir, ich habe ganz normal unterschrieben, ich hatte nicht die Absicht, meinen Namen in Milani zu ändern. Ich weiß, dass ich mitunter unleserlich schreibe, aber sie selbst haben den Namen falsch entziffert. In solchen Fällen ist die beste Strategie, sich nicht im Geringsten zu verstecken.»
«Und niemand hat Verdacht geschöpft?»
«Sieh mich an. Wer sollte einen fünfundachtzigjährigen blinden Italiener fürchten, der gezwungen ist, in einer Sänfte zu reisen?»
«Ein fünfundachtzigjähriger Blinder kann gewiss kein Kaiserlicher Postmeister sein!»
«Doch, durchaus, wenn er pensioniert ist. Weißt du denn nicht, dass sie hier im Reich bis zum Tod unterhalten werden?»
Alsdann begann er, mir das Gesicht zu betasten, wie er es schon bei unserer ersten Begegnung getan hatte, um mit den Fingerspitzen sein Gedächtnis aufzufrischen.
«Du hast einiges durchgemacht, mein Junge», bemerkte er, als er meine Falten auf der Stirn und den Wangen spürte.
Er drückte mir die Hände, die noch von den Schwielen und Beulen aus Rom verhärtet waren, und schwieg.
«Es tut mir so leid, Herr Abbé», wagte ich zu sagen, ohne den Blick von seinem Gesicht zu wenden, doch alle Worte des Dankes und mehr noch jene der kindlichen Verehrung für diesen gebrechlichen Kastraten erstarben mir angesichts der beiden unerbittlichen schwarzen Gläser in der Kehle.
Er hörte auf, mich zu betasten, kniff die Lippen zusammen, als müsste er einen Ausdruck tiefer Trauer zurückhalten, die jedoch sogleich von der zum Munde geführten Kaffeetasse und gezierten Geste, mit der er sich die schwarze Brille auf der Nase zurechtrückte, verdeckt wurde.
«Du wirst dich nach dem Grund für mein Kommen fragen, außer natürlich dem Wunsch, dich wiederzusehen; ein Vergnügen, welches in meinem Alter und bei den schweren Gebresten, die mich quälen, freilich nicht ausgereicht hätte, mich dem Rat meiner Ärzte zu widersetzen. Bis zuletzt haben sie versucht, mich daran zu hindern, Paris zu verlassen und eine so lange und gefahrvolle Reise auf mich zu nehmen.»
«Dann … seid Ihr also aus einem anderen Grund gekommen», sagte ich.
«Aus einem anderen Grund, ja. Um des Friedens willen, um genau zu sein.»
Und während er zu erzählen begann, drang mir der mit einer Spur duftenden Lokums gesüßte Kaffee (eine klebrige türkische Konfektmasse, die im Gegensatz zum Honig den Geschmack des Getränks nicht beeinträchtigt) in die Nase, und ich gab mich endlich dem wärmenden Glücksgefühl hin, diesen Gauner, Betrüger, Spion, Lügner und vielleicht sogar Mörder wiedergefunden zu haben, dem ich meinen derzeitigen Reichtum und tausenderlei Lehren verdankte. Lehren, die mein Leben bedroht hatten, weil
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