Veritas
abgelehnt. Torcy hatte darauf dieselbe Bitte an den Prinzen Eugen, den Kommandanten der Kaiserlichen, und an den Herzog von Marlborough gerichtet, den Anführer des englischen Heeres. Auch sie hatten ihn zurückgewiesen. Dann hatten die Franzosen versucht, Marlborough zu bestechen, wieder erfolglos. Schließlich entwürdigte der Sonnenkönig sich, das Undenkbarste zu tun: Er schrieb einen Brief an die Gouverneure seiner Städte und an das ganze Volk, darin er versuchte, sein Verhalten und jenen entsetzlichen Krieg, der sein Land ausblutete, zu rechtfertigen.
«Wirklich?», staunte ich bei diesen letzten Worten Attos, hatte ich doch über den Allerchristlichsten König nie anderes gehört als Berichte über sein arrogantes, unbeugsames und grausames Wesen.
«Dieser Krieg hat viel verändert, mein Junge», antwortete der Abbé.
«Auch den größten König der Welt?», fragte ich, indem ich jene Bezeichnung des Allerchristlichsten Königs zitierte, die ich vor dreißig Jahren von Atto gelernt hatte.
«Ja, auch le plus grand roi du monde », sagte er in einem Tonfall, den ich an ihm nicht kannte, da sich Skepsis unter den honigsüßen Klang der Worte mischte. «Wer ist der größte König der Welt? Die stolze Sonne oder der nüchterne, geduldige Jupiter? Die blutrünstigen Heerführer der Barbaren oder die besten Kaiser des Römischen Reiches? Und wahrlich, wen ergriffe nicht Bewunderung, gedenkt er des soldatischen Feuers Cäsars, der Regierungskünste des Augustus, des tiefen, unergründlichen Geistes des Tiberius, der Genügsamkeit Vespasians, der liebenswerten Tugenden des Titus, der heroischen Güte Trajans?», erhitzte sich Atto mit pompösem Gebaren. «Wer verehrte sie nicht, die Bildung Hadrians, die Milde und Gerechtigkeit des Antonius, die Weisheit des Marc Aurel, die strenge Selbstzucht des Pertinax, die geschickte Heuchelei des Septimius Severus? Was sollte ich sagen über die Seelengröße Diokletians, die erhabene Frömmigkeit und das siegreiche Schicksal des Großen Konstantin, über den scharfen Geist des Julian, die Duldsamkeit und Gottesfurcht des Theodosius und über viele Tugenden mehr, welche andere Römische Imperatoren auszeichnete? Solcherart Eigenschaften sind es, die sie in der Erinnerung der Menschen unsterblich gemacht haben, gewiss nicht das Blut, welches in Feldzügen vergossen ward!»
Ich begriff nicht, worauf Abbé Melani hinauswollte.
«Lang könnte man sie rühmen, die Hoheit der Gesetzgebung, die Würde des Senats, den Glanz des Ritterstandes, die Pracht der öffentlichen Bauwerke, die Fülle des Staatsschatzes, die Tapferkeit der Hauptmänner, die Vielzahl der Legionen, die Kriegsflotten, die königlichen Tribute und die Tatsache, dass Afrika, Europa und Asien durch den Willen eines einzigen Mannes gezügelt wurden. Aber die Souveränität der Römischen Imperatoren währte nicht dank vergossenen Bluts und Waffengewalt tausend Jahre lang, sondern war gegründet auf Vernunft und die Gabe der Weisheit, auf Freiheit und der rechten Lebensregel, welche den unterworfenen Völkern geschenkt.»
Wohl wahr, dachte ich, es ist nicht gerade die Politik des Alierchristlichsten Königs gewesen, den eroberten Völkern Freiheit und die rechte Lebensregel zu geben: Ihn drängte es vielmehr, alles mit Feuer und Schwert zu verheeren, wie er es sogar in der Pfalz getan, obwohl dies die Heimat seiner Schwägerin gewesen war. Noch nie hatte ich von Atto Melani ein so überschwängliches Lob auf die Tugenden von Regenten gehört, die seinem Herrscher fehlten, vielmehr hatte ich ihn immer bemüht gesehen, das zweifelhafte Verhalten der Franzosen zu rechtfertigen.
«In gleicher Weise ward Deiokes von den Medern auf den Thron erhoben», hub der Abbé wieder an, «denn nachdem er sich als Richter hohes Ansehen erworben durch seine Redlichkeit, schlichtete er mit wahrem Sinn für Gerechtigkeit ihren Zwiespalt untereinander. Item rief Rom, welches einst gesetzlos war und wild, aus den Sabiner Bergen Numa Pompilius, dass er es regiere, wiewohl kein andrer Verdienst ihn zierte als strenge und fromme Sittlichkeit. Und verfolgte die Römische Republik je ein andres Ziel als den Frieden aller Völker und die Ausrottung der Barbarei und blinden Gewalt, jene ewigen Quellen des Lasters und Gegner menschlicher Eintracht und gesitteten Lebens? Wohlgetan ist es also, dass ein Reich, welches auf Vernunft und wahre Tugend gegründet, welches nach dem Maße der Rechtschaffenheit geordnet, dem Frieden der Völker
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