Veritas
gewidmet und welches freien Zugang zu Würden und Ehren ermöglicht, immer noch allüberall als gebührlich und heilig verehrt wird und dass der Herrscher eines solchen Reiches als lebendiges Orakel der Vernunft und der wahren Tugend erkannt wird. Rechtmäßiger Erbe dieses alten Römischen Reiches aber ist das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und dein Erhabener Kaiser Joseph I., der Sieghafte.»
«Eure Worte erstaunen mich, Signor Atto; doch kann ich Euch nur vollauf zustimmen. Die Weisheit der Kaiser des Hauses Habsburg hat Wien die Schmach der Hungersnot erspart, welche in ganz Europa wütete.»
«Denk immer daran, Junge: Kein Lob ehrt einen Imperator mehr als jenes der Tugend: Wahrer Adel ist nichts anderes als Sittlichkeit, die durch Weitergabe vom Vater an den Sohn tief in einer Familie verwurzelt ist», sprach Melani mit sentenziöser Feierlichkeit. «Ohne Tugend ist die Königliche Familie zum Untergang verurteilt und mit ihr das ganze Reich. Die Habsburger werden weit länger auf dem Thron in der Hofburg sitzen als das Geschlecht des Allerchristlichsten Königs in Frankreich.»
Ich traute meinen Ohren nicht. So sprach Atto Melani, treuer Diener Ihrer Allerchristlichsten Majestät, Geheimagent der Krone Frankreichs, den ich seinem König immer nur blind ergeben gesehen hatte, sogar um den Preis, sich mit Schande zu bedecken und sich grässlicher Verbrechen schuldig zu machen?
«Für die Franzosen zählt nur der Schein, darin sind sie Meister», ereiferte er sich. «Ihre Allerchristlichste Majestät hat sich die grandioseste, kostspieligste, glanzvollste Fassade geschaffen, die man ersinnen kann. Der Prunk seines Hofes hat den aller anderen Monarchen übertroffen, die Posaunen des Ruhmes ertönten jeden Tag für ihn. Seine Kanonen haben halb Europa getroffen, sein Geld hat jeden ausländischen Minister bestochen. Frankreichs Tentakeln reichten überallhin – doch wozu? Jetzt gleicht sein Leib einem an Land gespülten Tintenfisch: leer, schlaff, verfault.»
Er rückte sich die kleine Brille auf der Nase zurecht, als müsse er eine Pause einlegen, die seine Ungeduld aber nur schwer ertrug.
«Was hat all der Ruhm Frankreich gekostet? Wie viele Bauern sind des Hungers gestorben, damit die Kanonen und Ballette ihres Königs bezahlt werden konnten? In Frankreich verschwendet man 250000 silberne Scudi für den Hof, ein Drittel des Staatshaushalts, während man in Österreich nicht einmal auf 50000 kommt. Sie haben meinen Freund Fouquet aus dem Finanzministerium vertrieben und ihn verleumdet; doch erst danach folgte der Zusammenbruch der öffentlichen Finanzen, und die Staatsausgaben sind jetzt dreimal höher als zu den Zeiten Ludwigs XIII. Das Reich liegt am Boden! Wer ist da wohl der Dieb?»
Er schwieg und tupfte sich den Schweiß über den Lippen ab. Dann steckte er das Tuch mit zorniger Hast wieder in die Tasche.
«Ach, mein Lieber! Ich wollte, ich könnte die Oberfläche Frankreichs wie einen Teppich zusammenfalten und das Elend in Paris hier vor dir ausbreiten. Du würdest Menschen sehen, die vor Hunger sterben, Bäcker, die für ein Stück Brot überfallen werden, Aufstände, blutig erstickt. Du würdest sehen, wie Familien ihre armselige Habe verkaufen, um zu überleben, Kriegswitwen, die ihren Körper verkaufen, um die Familie zu unterhalten, Kinder, die um Almosen betteln, und Neugeborene, die an der Kälte sterben. Ist das Ruhm? Alles stürzt zusammen im Reich Ludwigs. Vier Reiter der Apokalypse gibt es, aber nur jener auf dem weißen Ross des Krieges galoppiert so schnell. Eines Tages wirst du zu mir kommen, nach Paris, nach Versailles. Und erst dann wirst du die Größe Wiens erkennen.»
«Die Größe Wiens?»
«Die Franzosen beten den schönen Schein an, und in Versailles ist alles Schein», seufzte Atto. «In diesem trügerischen Universum dreht sich alles um den Sonnenkönig. Jeder gewöhnliche Sterbliche kann ungehindert in die Gärten, in den Königspalast und sogar in die königlichen Gemächer gelangen, nur das Zimmer für die privaten Mittagessen Ihrer Majestät ist stets verschlossen. Du kannst ihn speisen sehen oder seinem morgendlichen lever beiwohnen, wenn er die Augen öffnet und sein Atem noch nach der Rebhuhnsoße vom Vorabend riecht. Wenn er aus der Messe kommt, erwarten ihn so viele Menschen, dass man sich auf einem der großen Pariser Plätze wähnt. Auch in den Tuilerien oder im Louvre dürften sich eigentlich nur wenige Höflinge mit besonderer Genehmigung aufhalten.
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