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Veritas

Titel: Veritas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesco Rita & Sorti Monaldi
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ich sie befolgt oder – häufiger – weil ich sie abgelehnt hatte.
    Melanis Erzählung setzte 1709, vor zwei Jahren, ein: Es hatte nicht nur in Italien ein grausamer Winter geherrscht, wie ich selbst erfahren hatte, sondern auch in Frankreich, und es war das schrecklichste Jahr der gesamten Regierungszeit Ludwigs XIV. gewesen.
    Im Januar vereisten sämtliche Straßen und Flussufer; furchtbar wütete der Tod in der Bevölkerung, auch bei den Reichen. Viele, die sich zu Fuß oder zu Pferde auf die Landstraßen hinausgewagt hatten, starben an der Kälte. Die Kirchen waren voller Leichen, der König verlor mehr Untertanen durch den Frost als bei einer verheerenden Schlacht. Sogar der Beichtvater des Königs, Pater La Chaise, starb auf der doch so kurzen Fahrt von Paris nach Versailles. Atto blieb den ganzen Monat lang erkältet im Bett. Die Truppen wurden schlecht bezahlt, und wenn die Offiziere nicht von ihren Familien unterstützt wurden, kämpften sie nur widerwillig. Die Bankhäuser zahlten nicht mehr in Goldmünzen und Silber, sondern in Papieren aus der Staatlichen Münze, die Banknoten genannt wurden; als Wechselbriefe und für alle anderen Zahlungen dienten fürderhin nur noch diese Papiere, doch wenn man sie verkaufen, das heißt, in Gold oder Silber umtauschen wollte («richtiges Geld, kein lumpiges Papier!», rief Melani aus), bekam man aufgrund einer Anordnung des Königs nur noch die Hälfte ihres Nennwertes ausgezahlt.
    Im April brach eine Hungersnot aus. Die Städte wurden von Scharen armer, halbverhungerter Bauern belagert; wer Paris verließ, setzte sich der Gefahr aus, beraubt oder umgebracht zu werden. Das Volk war am Ende seiner Kräfte. Am Monatsausgang konnte ein Aufstand der Massen nur knapp verhindert werden: Ein Bettler, der in der Kirche Saint-Roche um Almosen bat, war von einigen Wachleuten festgenommen worden. Da er, unbewaffnet, Widerstand leistete, prügelten sie ihn vor der erschütterten Schar der Gläubigen zu Tode. Sogleich stürzte sich das Volk auf die Garden und wollte sie lynchen; sie konnten sich gerade so retten, indem sie in ein nahes Haus flüchteten. Unterdessen aber hatte das Feuer der Revolte um sich gegriffen: Aus ganz Paris strömten Horden wütender Menschen zur Kirche Saint-Roche, der Tumult währte viele Stunden, bis er unterdrückt werden konnte.
    Im Mai mehrten sich aufgrund der Hungersnot die Aufstände; man bekam nur noch Brot, wie Tinte so schwarz, und es kostete einen Julier und mehr das Pfund! So drohte an jedem Markttag die Gefahr einer Volkserhebung.
    Im Juni waren die Kassen der Krone erschöpft, es gab kein Geld mehr für den Krieg, auch die Soldaten erhielten keinen Sold und mussten sich von ihren Familien aushalten lassen.
    Als die kalte Jahreszeit wiederkehrte, tötete der Frost alle Olivenbäume, die wichtigste Einnahmequelle für den Süden Frankreichs, und die Obstbäume wurden unfruchtbar. Die Ernte war verloren, die Speicher leer. Die Schiffe, die wohlfeiles Korn aus den orientalischen und afrikanischen Häfen brachten, wurden von feindlichen Flotten geplündert, doch Frankreich konnte ihnen nur wenig entgegensetzen. Der König musste sein goldenes Geschirr für vierhunderttausend Franken verkaufen; und die reichsten der vornehmen Herrschaften ließen ihr Silberzeug in der Münze einschmelzen. Während man in Paris nur pechschwarzes Brot aß, wurde in Versailles der Tisch des Königs mit schlichtem Haferbrot gedeckt. Von dieser ganzen Misere las man kein einziges Wort in den Gazetten, donnerte Atto, die Nachrichten, welche veröffentlicht wurden, enthielten nur Fehler und Lügen.
    «Du wirst dich manchmal gefragt haben, was dein lieber Abbé Melani in Paris trieb», sagte er traurig. «Nun, auch ich habe gehungert, wie alle anderen.»
    Der Sonnenkönig begriff, dass er um jeden Preis mit den holländischen, englischen, deutschen und österreichischen Feinden Frieden schließen musste. Doch seine Angebote wurden von allen Seiten zurückgewiesen.
    «Niemand darf es wissen», flüsterte Atto Melani und beugte sich zu mir vor, «aber sogar der Marquis de Torcy hat sich so weit erniedrigt, den Frieden zu suchen.»
    Torcy, der im Ausland als der wichtigste Minister Frankreichs galt, war unter falschem Namen von Versailles nach Amsterdam gereist und überraschend im Palast des Großpensionärs von Holland vorstellig geworden. Dieser hatte staunend vernommen, dass sein großer Feind ihn demütig im Vorzimmer erwartete, um den Frieden zu erbitten. Er hatte

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