Veritas
sollte.
«Domenico, nimm ihn bitte an dich», sagte Atto, indem er dem Neffen seinen Spazierstock reichte.
In diesem Augenblick erinnerte ich mich, dass Abbé Melani beim Betreten des Kaffeehauses seinem Neffen den Arm gereicht hatte, damit er nicht auf den Eingangsstufen stolperte, und dass er sich dann Schritt für Schritt hatte führen lassen, um nicht gegen Stühle und Tische zu stoßen.
«Ich darf wohl sagen», antwortete ich schließlich auf seine Frage, «dass wir uns dank Eurer Großzügigkeit, Signor Atto – und nur dank dieser –, ausgezeichnet eingelebt haben.»
Noch während ich meine vorhersehbare Antwort vervollständigte, trug das Rennpferd der Erinnerungen mich im Galopp fort: Hatte ich nicht kurz zuvor, als wir auf das Lokal zugingen, gesehen, wie Atto Hindernissen auswich, indem er mit dem Stock über den Boden vor seinen Füßen strich, mal nach links, mal nach rechts?
«Das freut mich. Und ich hoffe, deiner Kinderschar geht es gut, ebenso deiner Frau», erwiderte er liebenswürdig.
«Oh, gewiss, allen geht es sehr gut, dem Kleinen, den wir mitgenommen, und auch den beiden Küken, die wir vorerst in Rom gelassen haben, aber wir hoffen, wir können bald …», sagte ich, während jener Gedanke meinen Geist noch bedrängte, ich aber nicht nachzufragen wagte.
«Dem Himmel sei Dank, just das hatte ich gehofft. Und meinen Glückwunsch zu dem Jungen, der bei unserer letzten Begegnung noch nicht angekommen war», bemerkte er freundlich.
Unterdessen hatte sich das Serviermädchen von eben erneut genähert, um uns Gazetten anzubieten, da sie gehört hatte, dass wir Italiener waren.
«Leggete il ‹Corriere Ordinario›, Signori! Oder hätten’s gern an ‹Wiennerisches Diarium›?», rief sie, die beiden Zeitungen manierlich in der jeweiligen Sprache aussprechend, und reichte uns ein Exemplar.
Domenico lehnte das Angebot mit einer Geste ab. Leise entfuhr Atto eine einzige, betrübte Bemerkung:
«Schön wär’s.»
Da warf ich einen letzten bestürzten Blick auf seine kleinen Brillengläser und hatte Gewissheit: Atto war blind.
«Doch Schluss jetzt mit den Dankesbezeugungen», fügte er sogleich, zu mir gewandt, hinzu, obgleich ich eigentlich gar nichts gesagt hatte. «Eher schulde ich dir einige Erklärungen.»
«Erklärungen?», wiederholte ich abwesend, noch mit der Entdeckung seines traurigen Zustands beschäftigt.
«Du wirst dich sicher fragen, wie es Abbé Melani, diesem Teufelskerl, gelungen ist, in Zeiten des Krieges gegen Frankreich nach Wien zu gelangen, während alle französischen Feinde mitsamt ihren Waren aus dem Reich verbannt sind.»
«Nun, um die Wahrheit zu sagen … Ich glaube zu wissen, wie Ihr das angestellt habt.»
«Ach, wirklich?»
«Es stand in der Zeitung, Signor Atto. Euch hat geholfen, dass Ihr Italiener seid. Ihr habt Euch, wenn ich es richtig verstanden habe, als Beamter der Kaiserlichen Post ausgegeben und mit Milani statt Melani unterzeichnet, wie Ihr es gelegentlich zu tun pflegt. Vermutlich habt Ihr glauben gemacht, Ihr wäret aus Italien gekommen, indem Ihr einen Pass benutztet, der gefäl …»
«Akkurat auf diese Weise, bravo», unterbrach er mich, mir das kompromittierendste Wort meiner Rede abschneidend. «Ich bat die gute Chormeisterin des Klosters an der Himmelpforte, nichts von meiner Ankunft zu verraten. Ich wollte dich überraschen. Doch ich sehe, dass du im Gegensatz zu deinen früheren Gewohnheiten in Wien die Zeitungen liest, oder jedenfalls das Wiennerische Diarium , ein sehr informatives Blatt. So sind die Österreicher, sie lieben es, auf dem Laufenden zu sein», fügte er in einem Ton hinzu, der eine Mischung aus Furcht vor den Feinden Frankreichs, Bewunderung für ihre Ordnung und Verdruss über ihr Spionagetalent offenbarte.
«Also habt auch Ihr diese Rubrik gelesen, wo …»
«Mein teurer Domenico, der des Deutschen mächtig ist», sagte er, auf seinen Neffen weisend, der immer noch schweigend dabeisaß, «erleuchtet gelegentlich das Dunkel, in welches mich zu stürzen dem lieben Gott gefiel», sprach Atto mit bewegter Stimme, was bedeuten sollte, dass Domenico nunmehr sein Vorleser war.
In der Tat hatte Attos Ankunft in der Stadt etwas Unerhörtes: Wie hatte er es geschafft, ungestraft in die Hauptstadt des Reiches zu gelangen? Dabei waren die Wachen in Wien von jeher ungeheuer streng! Sämtliche in der Stadt anwesenden Menschen und vor allem gefährliche Personen waren ständig unter Beobachtung: Fremde, Spione, Saboteure,
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