Veritas
Neuankömmlinge in der Stadt fiel, insbesondere auf einen Namen:
Meine Augen blieben förmlich an der Seite der Gazette kleben. «Herr Milan». Milani?
Es war, als läuteten alle Glocken der Stadt den Feueralarm. Zur Überraschung gesellte sich eine leise Enttäuschung: Nachdem ich mich ausgiebig am Triumph der Italiener in Wien geweidet, musste ich diese hochwichtige Nachricht in der Wienerischen statt in der italienischen Zeitung entdecken.
Blitzschnell kleidete ich mich an, verließ die Unterkunft unter lautem Türenschlagen und stürzte zum Ausgang des Klosters. Wo war das Posthaus? In der Wollzeile vielleicht, wie ich mich zu erinnern meinte? Im Geiste bereitete ich mich darauf vor, den ersten Passanten, der mir begegnete, zu fragen, und schon jetzt verfluchte ich mein holpriges Deutsch: «Verzeihung, ich suchen Station des Post …»
Ich eilte auf die Straße, wo mein Atem in der kalten Morgenluft zu einer weißen Wolke wurde, und bog sofort nach rechts in die Rauhensteingasse ein. Vielleicht lag es am peitschenden Frost, dass sich in meinem Geiste augenblicklich alles zusammenfügte: wie wir gestern Abend vor dem Kloster auf den jungen Mann trafen, der zu dem Diener sprach; das Motto von den Adlern und Raben; und zuvor noch die beiden Träger, die eine schwere Reisetruhe voller Kleidung in das Kloster brachten; dann der Gedanke, dass der Himmelpfortkonvent ein zweites Gästehaus direkt um die Ecke in der Rauhensteingasse besaß; die Ankündigung im Wiennerischen Diarium ; und schließlich, während ich Hals über Kopf in die Seitenstraße einbog, gleich einem Sonnenstrahl, welcher den Nebel durchschneidet, diese Stimme:
«… und später werden wir den Jungen aufsuchen.»
Ich lächelte über diesen «Jungen», der ich nun schon lange nicht mehr war, stolperte in meiner Eile über die Pflastersteine, vielleicht auch wegen des Schwindels, der sich meiner bemächtigte, und hob den Blick. Zwei kuriose dunkle Brillengläser auf einer großen, mit Bleiweiß gepuderten Nase waren auf mich gerichtet, während das übrige Gesicht hinter einem weiten grünen Überwurf und unter einem schwarzen Hut halb verborgen blieb. Ich erkannte ihn nicht, aber ich wusste, dass er es war.
An seiner Seite betrachtete der junge Mann vom Vorabend mich staunend.
«Ich … ich bin hier, Herr Abbé», stotterte ich.
11. Stunde, wenn Handwerker, Sekretäre, Sprachlehrer, Priester, Handelsdiener, Lakaien und Kutscher zu Mittag speisen
Auf das plötzliche Wiedersehen mit Abbé Melani waren herzliche, brüderliche Gefühlsbekundungen gefolgt.
«Lass dich umarmen, Junge», sagte er, kniff mich väterlich in die Seite und liebkoste mit den Fingerspitzen mein Gesicht. «Ich kann kaum glauben, dass ich dich wiedergefunden habe.»
«Auch ich kann es kaum glauben, Signor Atto», antwortete ich, das Beben in meiner Brust und die Freudentränen verbergend.
Zwischen unserer ersten und zweiten Begegnung waren siebzehn Jahre vergangen, zwischen der zweiten und dieser weitere elf. Lange Zeit war ich sicher gewesen, ich würde ihn nie wiedersehen. Nun aber stand Atto Melani, Fürst der Spione, heimliche Schlüsselfigur der Intrigen halb Europas, doch auch mein unersetzlicher Führer durchs Leben und seine Abenteuer, wieder in Fleisch und Blut vor mir.
Bei jeder Begegnung war er zu mir gekommen, und jedes Mal kam er von weit her, aus seinem Paris. Vor elf Jahren hatte er mich in Rom überrascht. Sein dunkler Schatten war plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, während ich die Gärten der Villa Spada umgrub. Ich war fassungslos, und er hatte sich diebisch darüber gefreut. Jetzt fand er mich hier, im weit entfernten Wien, in der Kälte des habsburgischen Frühlings, wo ich dank seiner Güte zu neuem Leben wiedergeboren war.
«Sei ehrlich», sagte er, seine Rührung als Ironie tarnend, «das hättest du nicht erwartet, dass der Tattergreis Abbé Melani hier auftauchen würde.»
«Nein, Signor Atto, obwohl ich weiß, dass man von Euch alles zu erwarten hat.»
Nach der kurzen, aber innigen Begrüßung mussten wir uns schon wieder trennen. Ich erklärte dem Abbé, dass meine Pflichten in der Josephstadt nicht warten konnten, leider; wir verabredeten aber, uns am Nachmittag in der Nähe des Stephansdoms zu treffen.
Abbé Melani wusste nur allzu gut, welches Gewerbe ich in Wien ausübte, hatte er selbst es mir doch verschafft. Als wir uns ein paar Stunden später wiedersahen, konnte er freilich nicht umhin, sich ein Taschentuch vor die Nase zu
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