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Verkehrte Welt

Verkehrte Welt

Titel: Verkehrte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen von der Lippe
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informiere mich also über die intellektuelle Krankheitsgeschichte, checke Interessen, ist das Kind also eher technisch, strategisch oder vielleicht sogar ethisch orientiert, sondiere die Temperamentslage, ist das Kind Sanguiniker, Misanthrop usw., und beim nächsten Besuch zu 100 Euro habe ich ein Flightcase voller Literatur dabei, mit der ich dann die Feinabstimmung vornehmen kann; ab der vierten Sitzung habe ich das Kind süchtig gelesen, so gut wie immer.
    Der zweite Auftraggeberkreis sind die Kinder alter Eltern, die, sei es zu Hause, sei es im Seniorenstift, anfangen apathisch zu werden, nicht mehr lesen, nicht mehr fernsehen, keine sozialen Kontakte mehr suchen, auch hier wirke ich Wunder, genau wie bei frisch Verlassenen beiderlei Geschlechts, da muss ich immer aufpassen, da findet ruck, zuck eine Übertragung statt, und die Klientin fixiert sich total auf mich, manchmal auch der Klient. Da erhöhe ich dann erst mal die Tarife, das hilft meistens. Einmal habe ich mir allerdings fast die Zähne ausgebissen, so beginnt die Geschichte, die ich in Gesellschaft gern erzähle, wenn es heißt: »Das ist ja ein interessanter Beruf, da passiert Ihnen doch sicher jede Menge Aufregendes, oder?«
    Ein Ehepaar bestand trotz exorbitanter Honorarforderungen darauf, dass ich ihrem Hund vorlese. Der Arme leide furchtbar unter der Trennung von ihrer Tochter, die für ein Jahr im Ausland studiere, greinte die Dame des Hauses, er verweigere die Nahrungsaufnahme und verlöre allmählich sein Fell. Auch meine Ausrede, dass ich einem Irish Setter doch sicher in Irisch vorlesen müsste, was ich aber leider nicht beherrschte, wurde abgewiegelt. Der versteht Sie schon, das ist der klügste Hund, den wir je hatten, meinten Herrchen und Frauchen, gleichzeitig nickend. Um es kurz zu machen, ich wählte eine Erzählung aus den Dubliners von Joyce in der Hoffnung, dass irische Temperamente sich gegenseitig heilen würden, und brachte sie dem vierbeinigen Landsmann zu Gehör. Nach drei Sätzen verkroch sich die traurige Töle unterm Bücherregal, und noch drei Sätze weiter begann sie laut zu winseln. Ich schwenkte sofort um auf »Wolfsblut« von Jack London, die wohl berühmteste Hundegeschichte der Welt, was den Hund augenblicklich aus seinem Versteck holte. Mit heftigem Schwanzwedeln umkreiste er mich freudig, nahm zu meinen Füßen Platz und betrachtete mich aufmerksam. »Schockheilung«, dachte ich, »der Fall ist erledigt«, und holte meine Pfeife hervor, um mich vorab oral ein wenig zu belohnen. »Na siehste, es geht doch«, sagte ich zum Hund und steckte mir die Pfeife zwischen die Zähne. Im selben Moment sprang der Hund mich aus dem Stand an, schnappte die Pfeife, riss sie mir aus dem Mund und die vorderen Stiftzähne gleich mit.
    »Oh wunderbar, er frisst wieder«, rief Frauchen, das neugierig den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte und mich auf allen vieren auf dem Boden vorfand, wo ich versuchte, meine Zähne wiederzufinden, während ihr Setter genüsslich meine Pfeife zermalmte.
    In der Realität sind solche Aufträge natürlich Mangelware, leider, wer würde nicht gerne für 150 Euro die Stunde einem Koi-Karpfen die Geschichte von Moby Dick vorlesen oder auf einem Bauernhof Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen. Dafür hat die Realität einen anderen Vorteil, sie ist besser als jede Fiktion. Letzte Woche höre ich meinen Anrufbeantworter ab und denke: »Die Stimme kennst du doch?«
    Tatsächlich war es Elke Heidenreich, die um ein Treffen bat. Wie sie mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitteilte, wäre sie kurz vor dem Bücher-Burn-out, ich könne mir ja gar nicht vorstellen, wie öde das sei, immer diese Frauenliteratur, ewig die Betroffenheitsleier, ob ich ihr nicht den Spaß an Büchern zurückgeben könnte?
    Unwillkürlich fiel mir meine Nachbarin ein, die sich bei mir nach ihrem Urlaub in der Wüste über den vielen Sand beklagt hatte. Bei Frau Heidenreich war das Problem wohl ähnlich gelagert. Ich bin erwiesenermaßen in der Lage, unter dem dürren Reisig meiner Zuhörerschaft literarische Flämmchen zu entfachen, hatte aber keinerlei Erfahrung mit ausgebrannten Fackeln. Ich brachte zu unserem verabredeten Treffen eine Idee und ein einziges Buch mit. Ein Schutzumschlag verhinderte, dass sie den Titel des erwählten Werkes lesen konnte, und mit meiner Stimme für schwere Fälle, einer Melange aus Cordsamt und Sandpapier, begann ich zu lesen: »Deine Backen stehen lieblich in den Kettchen und dein

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