Verkehrte Welt
eines Klaviers, an dem sie sich nun niederließ und selbstvergessen zu spielen begann. Zwei Stunden später erwachte sie wie aus einer Trance, und vor ihr lag auf zehn frisch ausgedruckten Seiten die Fantasygeschichte, die seit Wochen in ihrem Kopf gespukt hatte. Sie las sie einmal, zweimal … hatte sie das wirklich geschrieben? Die Geschichte war in jeder Hinsicht perfekt. Ein Held, den man sofort ins Herz schließt, eine Super-Angebetete, die in Gefahren gerät, wie man sie noch nie erlebt hat, mit Monstern, für die George Lucas sein rechtes Auge geben würde, einfach traumhaft. Wo kam dieser plötzliche Schreibschub her?
Sie brauchte jetzt ein Glas Sekt und eine Zigarette, zur Belohnung, zum Nachdenken und zur Beruhigung. Wo waren die verdammten Zigaretten nur? Im Schlafzimmer. Als sie es betrat, wurde ihr schon wieder anders, das Zeug stank wirklich widerlich. Beim Griff nach der Zigarettenschachtel wurde ihr schwarz vor Augen. Sie taumelte gegen die Wand und rutschte an ihr runter zu Boden. Zumindest würde sie sich das später anhand der Schleifspuren auf der Wange so zusammenreimen. Zusammen mit einer absolut perfekten Sex-and-Crime-Kurzgeschichte, die sie im Kopf vorfand, als sie wieder zu sich kam.
Nach zwanzig Minuten war sie geschrieben und ausgedruckt. Sie mailte beide Geschichten ihrem Lektor mit der Bitte um rasche Begutachtung, sie sei nicht sicher, ob die Sachen etwas taugten.
Zehn Minuten später rief er an: »Jessicaschatz, ich weiß nicht, was du genommen hast, aber ich will es auch haben, egal, was es kostet. Diese beiden Sachen sind so verdammt scheißabgefahren, so was Geiles habe ich in 20 Jahren Berufstätigkeit nicht gelesen. Bleib am Ball, schreib weiter, und morgen ist der Vertrag da, lässt der Chef ausrichten, und ob du mit 15 % statt zehn einverstanden bist, fragt er.«
Wie, genommen? Was meinte ihr Lektor? Plötzlich traf sie die Erkenntnis wie eine Abrissbirne: Das Schimmelzeug vom Hausmeister musste es sein! Da war irgendeine Substanz drin, die ihr Kreativzentrum so in den Arsch getreten hatte, dass sie plötzlich nur noch Bestsellermaterial absonderte. Hastig suchte sie den Zettel mit der Telefonnummer des Hausmeisters und griff zum Telefon.
»Hier bei Wuttke, wer spricht dort?«
»Jessica Falk, guten Tag, ich möchte gerne Herrn Wuttke sprechen.«
»In welcher Angelegenheit?«
»Das würde ich ihm gerne selber sagen, wenn Sie nichts dagegen haben!«
»Unter Umständen schon, Herr Wuttke ist flüchtig, hier spricht die Drogenfahndung, und Sie nennen mir jetzt bitte Ihre Adresse und Ihre Personalien, damit wir ein Rendezvouz ausmachen können.«
»So eine blöde Anmachtour habe ich ja noch nie gehört, Sie können mich mal!« Sie warf den Hörer auf ihr altmodisches Telefon, auf das sie sehr stolz war.
»Scheiße noch mal«, dachte sie, »Wuttke ist verschwunden und mit ihm der Stoff, aus dem die Knaller sind, ich muss ihn finden!«
In diesem Moment klingelte es an ihrer Tür.
»Tach, Frau Falk, ick bin's«, lachte Wuttke sie mit seiner chamoisfarbenen Kauleiste an, »wollte noch mal nach den Schimmel schauen. Hat det Zeugs jewürkt?«
»Und wie«, entfuhr es Jessica überschwänglich; dann biss sie sich auf die Lippen. Das war ja wohl die falsche Taktik. »Aber ich glaube, da sind noch Stellen, die unbedingt behandelt werden müssen«, schob sie nach, ließ den Hausmeister eintreten und schloss schnell die Tür hinter ihm.
»Haben Sie das Mittel dabei?«, fragte sie und versuchte nicht aufgeregt zu klingen.
»'türlich, ohne meinen Erste-Hilfe-Koffer geh ick nisch auf Tour«, sagte Wuttke vergnügt, öffnete die über seiner Schulter hängende Werkzeugtasche mit einem Griff und holte die weiße Plastiksprühflasche hervor.
»Herr Wuttke, ich habe eben bei Ihnen angerufen, und da war die Drogenfahndung am Apparat, die suchen Sie!«
Wuttke stoppte nur unmerklich auf seinem Weg in ihr Schlafzimmer.
»Haben die eigentlich nischt Besseres zu tun? Da haben Se wahrscheinlich wieder meinen Ältesten mit paar Krümel Gras erwüscht und wollen mir die Hölle heißmachen. Aber eens kann ick Ihnen janz offen sagen, et is ma lieber, der raucht ab und zu een Joint mit seine Kumpels, als dass er süsch ins Koma säuft, wa.«
Wuttke war inzwischen auf den Knien vor der Wand und tastete sie ab. »Vielleicht wäre es besser, Sie kümmern sich sofort darum, Herr Wuttke, das macht doch einen guten Eindruck bei der Staatsgewalt. Lassen Sie einfach die Flasche hier, ich mach das
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