Verletzlich
Tals.
»Ich hätte ihn verwandeln können. Auch wenn ich mich vor dem Gedanken scheue, aber in dem Moment wäre es möglich gewesen. Denk doch mal an die Folgen: Dann wäre er noch heute unter uns. Zugegeben, diese Vorstellung ist irgendwie unheimlich.«
Ich war inzwischen mehr oder weniger sprachlos vor Erstaunen, saß nur da und versuchte zu begreifen. Ich dachte an all die Dinge, die sie in all den Jahren erlebt haben musste … und was es für mich bedeutete. Dass ich mich in hundert Jahren in der gleichen Situation befinden könnte … oder in zweihundert … und noch immer keinen Tag älter als siebzehn wäre.
Der Gedanke überforderte mich. Besonders nachts. Und besonders, nachdem ich mit meinem Großvater telefoniert hatte. Was würde ich in hundert Jahren noch von ihm wissen? Und von Manda? Würde ich mich überhaupt noch daran erinnern können, wie sie oder meine Mutter aussahen? Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Stimmung war offenbar ansteckend. Ich hatte die drei Vampire noch nie so still erlebt.
»Darf ich euch etwas fragen?«, durchbrach ich schließlich das Schweigen. »Euch alle drei?«
»Natürlich«, sagte Anton und lehnte sich zurück.
»Wenn man so lange lebt, muss man doch viel gelernt haben. Unendlich viele Erfahrungen gesammelt haben?«
Donne schnaubte verächtlich. »Das glaubst du wohl, du frischester Frischling, den ich je gesehen habe.«
Ein wenig trotzig antwortete ich: »Ich weiß nicht, was ich glaube. Aber eigentlich müsstet ihr doch …«
Lena machte eine Handbewegung, als wollte sie die Wogen glätten. »Was Donne sagen will, ist, dass so viel von dem Wissen, das wir uns aneignen, letztendlich nutzlos ist, weil es veraltet, wenn die Zeit fortschreitet«, erklärte sie. »Kannst du dir vorstellen, wie wenig hilfreich ein Universitätsabschluss von 1891 oder selbst einer von 1932 im 21. Jahrhundert noch ist?«
»Aber das größte Problem ist, dass du die Lust verlierst«, fügte Donne hinzu.
»Woran?«
»An Begegnungen. Man hat keine Lust mehr, mit anderen Leuten zusammen zu sein, sich mühsam anzupassen, während man gleichzeitig dem alten Leben nachhängt.«
»Sie hat Recht, es ist einfach zu anstrengend«, pflichtete Anton ihr bei und legte seinen Arm um ihre Taille. »Sich immer verstecken und lügen zu müssen und immer kurz davor zu sein, erwischt zu werden, ist mühsam. Und dann muss alles, ausnahmslos alles, im Dunkeln stattfinden. Und wie viele große Ereignisse ereignen sich schon nachts? Sei ehrlich?« Er lachte abermals. Und dieses Mal schlug ihm Donne dafür auf den Arm.
»Aber das ist noch nicht alles«, sagte jetzt wieder Lena. »Wir haben auch deshalb nicht viel Kontakt zu anderen Leuten, eigentlich fast gar keinen, weil es … unbehaglich ist, wenn man irgendeine Form von Gewissen hat. Das ist eines der großen Opfer, die wir erbringen müssen. Unsere Erfahrungen sind ziemlich begrenzt, weil unsere Bindungsmöglichkeiten begrenzt sind. Kannst du dir vorstellen, einen Großteil deiner Zeit mit jemandem zu verbringen, der dazu bestimmt ist deine Nahrung zu sein?«
Mir kribbelte der Kopf. So wohl ich mich bei ihnen auch inzwischen fühlte – ab und zu tat sich zwischen uns eine erschreckend hohe Wand auf. Eine Wand, die mich stets daran erinnerte, dass sie, egal wie fest unsere Freundschaft würde, ein Problem hätten, das mich selbst nicht betraf: Ich würde nie das Blut anderer Leute trinken müssen, um zu überleben.
»Und … möchtest du uns jetzt auch etwas erzählen?«, erkundigte sich Lena und riss mich damit aus den Gedanken. »Wir sind auch neugierig.«
Ich wusste, was sie meinte. Ich hielt mit der Geschichte meiner Vampirwerdung hinterm Berg. Mit Moreau. Meiner Epilepsie. Dem Ruf .
»Ich … ich möchte euch gern von mir erzählen«, antwortete ich. »Ihr seid so offen mit mir gewesen. Und ich werde es auch sein. Aber ich … ich brauche noch ein wenig Zeit.«
Als Donne darauf reagieren wollte, hob Lena die Hand und bremste sie damit einmal mehr.
»Das verstehen wir vollkommen«, antwortete sie. »Über so etwas Schreckliches zu reden, wenn es noch ganz frisch ist … Das ist sehr schwierig. Nimm dir die Zeit, die du brauchst.«
Ich musste herausfinden, wie ich ihnen erklären konnte, wer ich war – ein halbvampirischer Mensch, der der Grund dafür war, dass sich ein Monster uns allen immer weiter näherte.
Am nächsten Morgen wachte ich spät auf und war schlecht gelaunt. Heute war Montag. Sagan hatte jeden Tag Seminar,
Weitere Kostenlose Bücher