Verletzlich
Dunkelheit floh. Ich blieb, wo immer es möglich war, und raubte den Leuten so wenig Blut, wie ich konnte. Dennoch fühlte ich mich nach wie vor abscheulich und konnte damit immer weniger umgehen. Verzweifelt versuchte ich mich zu bessern. Zufällig geriet ich nach Washington D. C., wo wegen des Krieges viele Krankenschwestern gebraucht wurden. Ich hatte keine Ausbildung, aber sie waren unterbesetzt und suchten verzweifelt nach Helfern. So wurde ich Nachtschwester in einem Bürgerkriegslazarett.
Wegen meiner mangelnden Erfahrung bekam ich die widerwärtigsten Aufgaben zugeteilt. Meine Station hatte achtzig Betten. Der Gestank war unbeschreiblich, erst recht für den Geruchssinn eines Vampirs. Um ihn ertragen zu können, bespritzte ich mich jeden Abend mit Lavendelwasser. Aber weißt du, wovor ich mich am meisten fürchtete, Emma? Die armen Männer zu versorgen, die mit Wunden, aus denen das Blut spritzte, frisch vom Schlachtfeld kamen. In jenen Momenten wurde meine Gier so maßlos, dass ich glaubte, vor lauter Scham über diesen raubtierhaften Trieb wahnsinnig zu werden. Und doch lernte ich meinen verfluchten Appetit zu zügeln. Es war ein schwerer Kampf, doch ich fühlte mich besser. Nicht nur, dass ich die Kontrolle über mich zurückerlangte, mir tat es auch gut, helfen zu können. Ich fütterte, wusch und tröstete sie und lernte sogar mit Amputationen umzugehen, ohne mich selbst zu verlieren.
Und dann, eines Nachts, als ich mich um einen sterbenden Mann kümmerte, der in der Schlacht von Fredericksburg schwer verletzt worden war, hatte ich eine Eingebung: Ich konnte eine Art Erlöserin für hoffnungslos leidende Menschen werden. Während er vor sich hin dämmerte, sang ich ihm für eine Weile etwas vor, dann legte ich meine Lippen an seine Kehle und saugte ihm den letzten Lebensfunken heraus.
Ich schäme mich zu sagen, dass es mir eine tiefe – physische und geistige – Befriedigung verschaffte. In jenem Lazarett blieb ich bis zum Ende des Kriegs. Keine Ahnung, wie viele leidende Männer ich ins Jenseits beförderte, während ich meinen Durst stillte. Aber ich tat es nicht nur, um zu überleben. So seltsam es klingt, aber für mich war es ein Weg, um … menschlich zu bleiben.«
Lena zog ihre Beine hoch und setzte sich im Schneidersitz auf die Mauer.
»Nach dem Krieg blieb ich noch so lange, wie ich konnte, aber bald gab es nicht mehr viele Stellen für Nachtschwestern und ich war gezwungen weiterzuziehen, weil sie mich in der Tagschicht einsetzen wollten. Ich hatte große Angst, dass die alten Zeiten mit all dem damit verbundenen Schrecken zurückkehren könnten. Dann hörte ich zum ersten Mal von den soleils und erinnerte mich daran, wie ich meinem Hunger zu widerstehen gelernt hatte, bevor ich in dem Lazarett tätig gewesen war. Ich schloss mich ihnen an, begann zu fasten und bin bis heute mit ihnen zusammen«, beendete sie ihre Geschichte.
Mein Kopf war voller Fragen: Washington D. C. während des Sezessionskriegs? Ich musste es einfach wissen.
»Hast du ihn je gesehen?«
»Wen?«
»Du weißt schon … den Präsidenten?«
»Ach so.« Lena lächelte. »Ja, ich habe ihn tatsächlich gesehen. Allerdings nur ein einziges Mal. Den größten Teil seines Amtes hat er ja tagsüber ausgeübt. Aber eines Abends hat er unser Lazarett besucht, um den Truppen Mut zuzusprechen, und ich war auch dort.«
»Du bist ihm tatsächlich begegnet. Du hast Abraham Lincoln getroffen.«
»Nicht nur das. Ich habe sogar mit ihm gesprochen. Der Präsident hat meinen Arm berührt …«
»Ich fasse es nicht. Wie war er?«
»Er war ein Mensch. Für mich war er ein Mensch und nicht das Denkmal, zu dem man ihn heute machen will. Er hatte ein sehr trauriges, ernstes Gesicht. Aber als einer der Männer ihn zum Lachen brachte und ihm einen Witz über einen Südstaatler erzählte, der halb Maultier war, wurde er plötzlich ganz anders … so lebendig. Er trug einen schwarzen Mantel und eine dunkelblaue Fliege. Seine Augen waren hellgrau. Sein Gesicht war von Falten zerfurcht, sein Haar noch ziemlich dunkel, aber bereits von grauen Strähnen durchzogen. Ich weiß noch, dass ich gern mit einem Kamm hindurchgegangen wäre. Seine Stimme war überraschend hoch für einen so großen Mann. Er war schlank, gab aber dennoch eine stattliche Figur ab. Seine langen Finger … als sie mich berührten …«
Sie hielt inne und ließ den Blick über das Steinhaus-Hotel schweifen und dann weiter bis zum dunklen Horizont am Ende des
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