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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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aber montags, mittwochs und freitags war er immer besonders lange an der Uni. Mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor, bis ich ihn wiedersehen konnte. Bis zum nächsten Abend.
    Früher bin ich komischerweise nie ein Nachtmensch gewesen, jetzt konnte ich es kaum erwarten, bis das Tageslicht schwand. Wurde ich jemand anders?
    Ich nahm die Taschenuhr heraus, die Sagan mir geschenkt hatte. Erste Stunde, Englisch bei Ms Rose. Dort sollte ich jetzt sein. Wir behandelten gerade ein Buch, das ich nicht ausstehen konnte. Aber nun würde ich nie erfahren, wie es ausging. Nie im Leben. Denn ich würde nie auf die Idee kommen, so etwas freiwillig zu lesen.
    Danach Chemie mit all den seltsamen Gerüchen, Bunsenbrennern und Reagenzgläsern. Anschließend das Geschichtsreferat, das ich mit meiner Arbeitsgruppe vorbereitet habe. Eigentlich mochte ich keinen dieser Mitschüler, aber wir waren eben … eine Gruppe. Mathe. Was auch immer sie heute Nachmittag lernten, würde in meinem Gehirn für immer fehlen.
    Was wäre, wenn ich nie mehr dorthin zurückkehren könnte? Wenn ich so … für immer leben müsste?
    Nie würde ich meine Abschlussnoten erfahren. Und nie wieder eine dieser albernen Cheerleaderveranstaltungen mitmachen. Keinen Schulabschlussstreich mehr erleben. Nie mehr in der Kantine Schlange stehen. Kein Gedrängel vor den Schließfächern mehr. Nie wieder Typen über meinen Busen lästern hören.
    Ich habe mich in der Schule nie wohlgefühlt. Warum machte es mir jetzt plötzlich etwas aus, nicht mehr dort zu sein? Niemand hielt mich davon ab, für mich selbst zu lernen …
    Der Gedanke, keinen Abschluss zu haben, gefiel mir noch weniger, als mir die Schule jemals gefallen hatte. Die ganze Arbeit umsonst. All die Krämpfe in der Hand vom Mitschreiben. So viel Lesen. Die zahlreichen Referate. Und auch die fünfzig Pfund Bücher hätte ich umsonst durch das Gedrängel in der Pausenhalle geschleppt. Alles wie abgeschnitten und erledigt.
    Ich konnte es selbst kaum glauben, dass ich die Schule vermisste. Es ist schon komisch, dass man etwas, was man immer schrecklich fand, sofort nicht mehr als so schrecklich empfindet, wenn man es von außen betrachtet. Es gibt immer eine Kehrseite, und die heißt nicht Liebe. Es ist vielmehr das Gefühl, Teil von etwas zu sein, ob man will oder nicht.
    Ich überlegte, ob ich in der Schule schon offiziell als eine der »Verlorenen« galt, der demnächst mit einem Schwarz-Weiß-Foto – das für Tod steht – an irgendeinem unpassenden Platz wie der Cafeteria, der Turnhalle oder neben der Tür zum Büro des Direktors gedacht werden würde. Schüler, die die Schule erst Jahre später besuchten, würden das Bild sehen und sich fragen, wer wohl dieses traurige, zornige Mädchen war. Und dann würde jemand sagen, ach, das war diese komische Tussi, die vor vielen Jahren verschwunden ist und nie gefunden wurde. Die Vorstellung, so in Erinnerung zu bleiben, bedrückte mich mehr als alles andere.
    Ich hatte das dringende Bedürfnis, mich zu bewegen. Deshalb zog ich die Trekkingschuhe an und lief in die Stadt. Nur um ein wenig Schulluft zu schnuppern, nahm ich den Weg an der örtlichen Highschool vorbei. Ein riesiger zweigeschossiger Flachdachkomplex, der aus großen, braunen Betonquadern in Waschmaschinengröße gebaut war. Er sah aus wie eine Festung. Vielleicht rechneten Schulen heutzutage ständig mit Amokläufern.
    Auf dem Fußballplatz waren zwei Mädchenmannschaften zu sehen. Sie spielten nicht schlecht, sahen aber aus, als wären sie nicht mit vollem Einsatz dabei. Sofort juckte es mich, aufs Spielfeld zu springen und ihnen zu zeigen, wie man den Ball ins Tor hämmert. Wie man eine Verteidigerin richtig umläuft.
    Warum nicht?
    Ich sprang über den Zaun und rannte auf den Platz. Zwar trug ich Jeans, aber was machte das schon? Bevor sie mich überhaupt wahrgenommen hatten, stoppte ich den nächsten nachlässig ausgeführten Pass und im nächsten Moment war ich mit dem Ball am Fuß unterwegs. Im Slalom bahnte ich mir einen Weg um die Mädchen herum. Ich flitzte an ihnen vorbei, als würden sie durch nassen Zement stapfen.
    »He!«, rief eine von ihnen.
    Ich kannte diesen Spielerinnentyp – groß und schlaksig und vermeintlich schläfrig. Doch wenn man ihnen zu nahe kommt, treffen sie dich am Kopf oder im Magen oder im schlimmsten Fall am Busen so hart, dass es eine Weile dauert, bevor der Schmerz überhaupt einsetzt.
    Sie nahm die Verfolgung auf und rief den anderen zu, ihr zu folgen.
    »Los,

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