Verletzlich
vormachen«, riet Anton mir. »Du brauchst ihr nur zuzuhören, wenn sie schläft.«
»Aber ich schlafe nie«, entgegnete Lena.
Donne schien mit etwas anderem beschäftigt zu sein. Ich fragte mich, worüber sie wohl gerade nachdachte, als sie – hatte ich meinen Gedanken laut ausgesprochen? – plötzlich rief: »Sag’s ihr, Lena.«
»Was soll sie mir sagen?«, fragte ich.
Lena starrte Donne an, als kämpfte sie mit sich, ob sie es tun sollte oder nicht. »Früher oder später würde sie ohnehin darauf kommen«, sagte sie seufzend.
»Worauf?«
»Valentin war nicht irgendein alter Vampir«, begann Donne. »Habe ich Recht, Lena?«
»Nein«, pflichtete ihr diese fast flüsternd bei. »War er nicht. Er war Kreole, aber das war nicht alles. Er war auch ein perdu .«
»Warte mal«, stieß ich hervor. »Dann hast du dich also mit einem perdu eingelassen? Also sind sie wohl nicht alle leicht zu erkennen und sehen wie Monster aus.«
»Oh nein«, bestätigte Lena. »Denn … auch ich war eine perdu .«
19
Möglichkeiten
Ich will nicht lügen. Der Gedanke, dass die drei Vampire mich ausgetrickst haben könnten und ich in ein Nest der perdus geraten war, kam mir sehr wohl. Womöglich wartete hinter der nächsten Ecke Moreau. Vielleicht gab es auch gar keine Unterscheidung zwischen perdus und soleils und sie erlaubten sich einen Spaß mit mir. Sie hatten ja so viel Zeit totzuschlagen …
Doch ein Blick in Lenas Augen zerstreute diese Befürchtung sofort. Über die Macht eines Vampirblicks gibt es viele Geschichten, doch was ich in ihren Augen sah, war nichts als Schmerz. Schmerz und Trauer und der jahrelange Versuch, darüber hinwegzukommen.
»Aber …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Lass mich dir helfen«, bot Donne an. »Du fragst dich, ob das nicht alles Schwachsinn ist, stimmt’s, Emma? Die soleils . Die Reinigung durch besonderes Sonnenlicht, das Fasten. Gib’s zu.«
»Aber ich habe gesehen, wie ihr euch auf der Blutjagd verhalten habt«, stammelte ich. »Es war so … anders, völlig anders als das, was ich erlebt habe. Euch sind die Leute, von denen ihr trinkt, nicht egal.« Abermals sah ich Lena an. »Bist du vielleicht beides?«
»Lange Zeit war ich eine perdu «, sagte sie und klang müde. »Ich kannte ja nichts anderes. Nur so konnte ich überleben.«
»Hast du … hast du Leute getötet?«
»Ja. Ja, das habe ich getan. Es soll keine Entschuldigung sein, ehrlich, aber ich war so … gebrochen. Man hatte mir beigebracht, Gott zu ehren, und genau von diesem Gott fühlte ich mich jetzt verraten. Zuerst durch Pastor Orton, dann durch die Art, wie mir Valentin genommen wurde. Die einzige Freude, die ich je gekannt hatte. Ich hatte eine Wut auf die Welt. Vor allem auf die Männerwelt. Sie allein war schuld am Leiden der Menschheit. Ich glaubte es rechtfertigen zu können. Nein, mehr noch, ich fühlte mich im Recht. Fast wurde ich zu einer Dämonin. Man redete über mich. Vielleicht kursieren die Geschichten immer noch, ich weiß es nicht. Die Graue Lady wurde ich genannt. Ich war brutal, wer mir zum Opfer fiel oder was für Leid ich über die Betreffenden brachte, das alles kümmerte mich nicht. Dann, eines Nachts, stürzte ich in eine Kirche … ich weiß nicht einmal mehr, was für eine Kirche es war. Ich war gierig, blutrünstig. Meine einzige Sorge war, ob ich dort drinnen ein warmes, menschliches Wesen antreffen würde, über das ich herfallen konnte. Tatsächlich war dort ein Mann. Er war sehr jung und kniete vor dem Altar. Sein Hut lag neben ihm. Die Kleidung war schäbig und zerrissen. Er hatte mir den Rücken zugewandt. Er hatte keine Chance. Erbarmungslos stürmte ich auf ihn zu wie ein Orkan. Doch als ich mich gerade auf ihn werfen wollte, sah ich, dass er vor einem Kind kniete, das in einem kleinen weißen Sarg lag. Es war ein vielleicht vierjähriges Mädchen. Ich landete so leichtfüßig, dass er mich vielleicht nie bemerkt hat. Langsam wich ich von ihm und dem toten Kind zurück, bis ich wieder draußen war. Ich stürzte die Treppen hinab und weinte bitterlich über das, was aus mir geworden war. Danach wollte ich alldem ein Ende bereiten. Ich wartete auf den Sonnenaufgang, aber als es so weit war, fehlte mir der Mut. Ich versteckte mich im Keller eines nahe gelegenen Hauses, wo eine alte Frau allein lebte. Ich hätte sie jederzeit nehmen können. Aber ich merkte, dass ich gegen die Gier ankämpfen konnte. Eines Nachts wurde sie jedoch so stark, dass ich in die
Weitere Kostenlose Bücher