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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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jetzt dies.« Sie fuchtelte wild mit den Armen. »Du wirst blind.«
    »Mom, ich werde nicht blind. Sagt es nicht bereits genug über die Qualität dieses angeblichen Spezialisten aus, wenn er seine Praxis in einem Shoppingcenter hat? Es wird alles gut werden. Ich habe das Gefühl, es ist bereits besser geworden.«
    »Du lügst. Ich spüre immer, wenn du lügst.«
    »Falsch. Ich lüge nicht.«
    »Und warum hast du das gerade gesagt?«
    Ich seufzte. »Weil ich weiß, dass es dir Angst macht. Ich will nicht, dass du dich sorgst. Ich sorge mich ja auch nicht. Ich will nur wieder Shorts anziehen können.« Ich hatte keine Lust mehr, immer Jeans zu tragen. Wenn ich könnte, würde ich das ganze Jahr über in Shorts herumlaufen. Doch bis die Fäden gezogen waren, würde niemand den Verband an meinem Bein zu sehen bekommen. Ich wandte den Kopf ab, um ihr zu verstehen zu geben, dass das Gespräch für mich beendet war.
    Normalerweise verheimliche ich nie etwas. Doch jetzt tat ich es. Ich verheimlichte, was ich gesehen hatte, als ich im Dunkeln ins Gesicht meiner Mutter geschaut hatte. Blau . Aus ihrem Mund war ein schwacher blau leuchtender Dunst entwichen. Genauso wie aus dem des Augenspezialisten.
    »Jetzt tust du es schon wieder«, rief Manda und riss an meinem Arm. »He, Emma. Hör auf damit und werde endlich wach!« Sie schnippte mit den Fingern.
    Ich blickte auf etwas, was ich durch das Fenster sah: einen von Licht umrahmten Baum. Doch ich nahm ihn nicht als Baum wahr, sondern nur als verschwommene Form, die von innen her strahlte. Für meine Augen war es sehr angenehm. Es war, als würden sie immer runder und größer, als weiteten sie sich immer weiter, bis ins Unendliche. Und je länger sie starrten, desto angenehmer wurde es, bis ein inneres Wohlbefinden mich durchströmte, dass ich den Baum, der kein Baum mehr war, für den Rest meines Lebens hätte anschauen können.
    »Emma!«, schrie Manda.
    »Hä?« Ich blinzelte. Sie schüttelte den Kopf. Die wohlige Zufriedenheit angesichts des leuchtenden Baums war verschwunden.
    »Jetzt warst du schon wieder so.«
    Sie meinte, dass ich einen »kleinen« Anfall gehabt hatte. Wenn ich für einen kurzen Moment, sagen wir dreißig Sekunden, das Bewusstsein verlor, handelte es sich um eine Absence. Oder es war sogar nur ein partieller Anfall, der sich ähnlich äußerte, nur dass man gar nicht ohnmächtig wurde. Bisweilen waren sie nur schwer zu unterscheiden. Die Ärzte bezeichneten diese Sorte Anfälle jedenfalls auch als Petit Mal . In der Regel verliefen sie ziemlich mild. Danach war es jedes Mal so, als hätte ich eine Minute meines Lebens einfach übersprungen, bevor es ganz normal weiterging. Diese kurzen Zeitfragmente waren dann für immer verloren.
    Manchmal hatte ich mehrere dieser kleinen Anfälle an einem Tag, dann wieder eine Woche lang keinen. Meistens bemerkte ich sie selbst gar nicht, es sei denn, meine Mutter oder Manda machte mich darauf aufmerksam.
    Um die »großen«, die tonisch-klonischen Anfälle zu unterbinden, nahm ich Epanutin. Größtenteils war die Therapie erfolgreich, von Zusammenbrüchen wie auf dem Fußballturnier abgesehen. Gegen die kleinen Anfälle hatten wir einige Medikamente probiert, doch keins schien sie vollständig unterdrücken zu können. Stattdessen machten sie mich so müde, dass ich in der Schule immer wieder einnickte. Deshalb hatte ich aufgehört, diese Medikamente zu nehmen, zumal ich das Glück hatte, dass diese kleinen Anfälle normalerweise ziemlich harmlos verliefen. Dieser Anfall fühlte sich jedoch aus irgendeinem Grund nicht ganz so harmlos an.
    »Sehe ich aus, als wäre ich verrückt?«, fragte ich sie.
    »Nur zu einer Million Prozent«, sagte Manda. Sie tauchte ihren Finger abermals in Erdnussbutter.
    »Tu das nicht. Das ist nicht gut für dich.«
    »Das ist mir egal, Emma. Sie ist so lecker.«
    Ich sagte nichts mehr. Der Anfall hatte mir ins Gedächtnis zurückgerufen, was mir in der Augenarztpraxis aufgefallen war: der blaue Dunst, der meiner Mutter aus dem Mund geströmt war. War das eine neue Nebenwirkung meiner Epilepsie? Was ging in mir vor sich?
    »Emma? Hörst du mich?«, brüllte Manda. »Ich habe gesagt, wusstest du, dass ich bis zu einer Milliarde zählen kann? Emma!«
    »Was? Ach ja, kannst du das?«
    »Eins, zwei, drei, vier, fünf, eine Milliarde«, sagte Manda und wälzte sich kichernd auf dem Wohnzimmerboden.
    Ich überlegte währenddessen, dass ich es sofort noch einmal ausprobieren könnte. Ich könnte

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