Verletzlich
rausgehe.«
Wir schauten zusammen fern, bis ich das Abendessen nicht länger hinausschieben konnte. Während ich die Suppe aufwärmte, saß Manda auf der Arbeitsplatte neben dem Sandwich-Automaten, pulte den Käse aus der Plastikfolie und legte ihn auf die Toastbrotscheiben. Das war ihre Aufgabe.
Nachdem wir gegessen hatten, setzten wir uns wieder vor den Fernseher und blieben lange davor sitzen, obwohl es nichts Gutes gab. Dann ging ich mit Manda Huckepack in ihr Zimmer und las ihr, wie jeden Abend, etwas vor. Ihre Lieblingsbücher waren die von Dr. Seuss. Wir lasen eine Geschichte über die Sneetches – vogelähnliche Wesen, die am Strand leben –, bis sie in meinen Armen einschlief. Ich deckte Manda zu und betrachtete sie noch eine Weile im Schlaf. Ihr goldblondes Haar lag auf dem Kissen ausgebreitet. Ich fragte mich, in welchem Alter sie wohl erfahren würde, was es hieß, enttäuscht zu werden. Sie hatte noch immer meine Sonnenbrille in der Hand. Ich löschte das Licht und verließ ihr Zimmer.
Auf dem Flur versuchte ich an dem Kalender, auf dem ich meine anfallfreien Tage mit dicken roten Kreuzen markiert hatte, vorbeizugehen, ohne ihn zu beachten. Es war zu früh, um auch nur mit dem Zählen zu beginnen.
Wieder in der Küche angekommen, belud ich die Geschirrspülmaschine – schließlich musste ich anfangen, auf dem mütterlichen Konto wieder Punkte zu sammeln. Dann erneuerte ich den Verband an meinem Bein, nicht ohne zuvor antiseptische Salbe auf die Wunde zu schmieren. Dabei sah ich mir noch eine grottenschlechte Lebenshilfe-Sendung an und aß einige Löffel Eis aus einer alten Packung, die ich hinten im Tiefkühlschrank gefunden hatte. Als Mom um elf nach Hause kam, hatte ich den Fernseher ausgeschaltet und saß am Küchentisch, wo ich halbherzig meine Hausaufgaben erledigte. Sie stellte ihre Tasche ab und stolperte dann über meinen Rucksack.
»Emma!«
»Ja?«
»Wo bist du? Was ist los?«
Ich hüpfte in den Flur. »Ich bin hier. Warum?«
»Warum ist überall das Licht aus?«
»Hä?«
Ich glaubte ihr nicht, bis sie auf den Schalter drückte und die plötzliche Helle mir die Augen mit voller Wucht in den Schädel presste. Ich konnte alles sehen. Selbst Farben. In vollkommener Dunkelheit.
3
Neue Kräfte
»Man nennt es ›Photophobia‹«, erklärte mir der Augenarzt, der auf solche Dinge spezialisiert war, einige Tage später.
»Angst vor Fotos?«
Darauf reagierte er nicht. »Der Grund könnte eine Hornhautabrasion sein. Oder eine Uveitis, das ist eine Entzündung der mittleren Augenhaut. Seltener auch eine Netzhautablösung oder sogar eine nervliche Erkrankung wie Meningitis.«
Meine Mutter holte tief Luft. »Oh mein Gott.«
»Sehe ich etwa krank aus?«, fragte ich und sah sie an. »Ich fühle mich gut. Außerdem sind meine Augen in Ordnung. Ich meine, ich habe keine Sehprobleme. Es ist eher so, als würde ich … zu gut sehen.«
»Das ist nicht möglich«, sagte der Spezialist, dessen Name ich nicht mitbekommen hatte. Er war alt. Sein graues Haar wurde bereits weiß. Sein Jackett roch ein wenig nach nassem Hund, als er mit seiner kleinen Lampe dicht an mich herankam. »All die oben genannten Dinge gehen mit einer Verminderung des Sehvermögens einher. Sie kann temporär sein, aber …«
»Aber sie konnte sehen«, sagte meine Mutter. »Ich habe das Licht ausgemacht, um sie zu testen. Sie konnte Dinge auf der anderen Seite des Raumes sehen, die ich nicht einmal erkennen konnte, wenn ich sie in der Hand hielt! Sie konnte mir die Gegenstände in allen Einzelheiten beschreiben, obwohl es stockdunkel war.«
»Vielleicht war es heller, als Ihnen bewusst war.«
»Dann testen Sie mich«, schlug ich vor.
Das tat er. Er versicherte sich, dass kein Licht von draußen hereindrang, und zeigte mir mehrere Gegenstände. Ich konnte sie problemlos erkennen. Allerdings nicht so wie bei Tageslicht. Sie reflektierten kein Licht. Es war eher …
»Sie leuchten aus sich selbst heraus«, stellte ich fest.
»Emma macht gern Späße«, sagte meine Mutter, als würde sie über jemanden in Mandas Alter sprechen.
»Das stimmt nicht«, widersprach ich. Ich mochte Späße überhaupt nicht. Vielmehr sagte ich gern die nackte Wahrheit.
Von der Lampe ging ein diffuses Leuchten aus. Genau wie von allem anderen auch. Deshalb wusste ich, dass sie grün war.
»Jetzt rate mal«, sagte der Spezialist und hielt mir die Lampe vor die Nase. Er grinste. Im Dunkeln.
»Okay, wollen Sie wissen, was darauf
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