Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
mir beim Denken und beruhigte mich, wenn ich mich aufregte oder überdreht war.
    Am liebsten wäre ich auf dem Rasen gelaufen, aber er war nass und matschig, weil es am Nachmittag ein ziemliches Unwetter gegeben hatte. Also war Joggen auf der Tartanbahn angesagt. Im Westen türmten sich erneut drohend dunkle Wolken auf und das Licht ließ bereits nach. Na ja, für alle anderen jedenfalls.
    Es war mehr als eine Woche her, seit ich so richtig Gas gegeben hatte, deshalb begann ich mit einem leichten Stretching. Dann rannte ich los.
    Göttlich.
    Das Wort kam mir in der ersten Kurve in den Kopf. Ich spurtete bergauf und wurde trotzdem schneller. Mein verletztes Bein schmerzte überhaupt nicht. Aber es war nicht nur, dass es nicht schmerzte, ich hatte mich beim Laufen noch nie so gut gefühlt.
    Dazu muss man sagen, dass ich mich jedes Mal fantastisch fühlte, wenn ich rennen konnte. Trotz meiner Größe hatte ich die Geschwindigkeit im Blut. Aber so zügig … Ich blickte mich um. Aus den dicken Wolken begann es zu regnen. Niemand war zu sehen.
    Zieh.
    Ich verlängerte den Schritt und verspürte das Bedürfnis zu sprinten, in vollem Tempo, so wie man es nur einige Sekunden durchhalten kann.
    Irgendetwas in mir entspannte sich.
    Mein Gott  … ich war schneller unterwegs als je zuvor. Ich raste und es war vollkommen mühelos. Dennoch spürte ich, dass es kein voller Sprint war. Ich war noch nicht im höchsten Gang.
    Ich zog weiter an und merkte, wie der Wind an mir vorbeipfiff, als würde ich beim Autofahren den Kopf aus dem Fenster halten. Aber anders als im Kino, wenn sich etwas sehr schnell bewegte, verschwamm die Umgebung nicht. Alles war so klar, als würde ich still stehen.
    Ich hörte meinen Herzschlag. Eigentlich hätte er rasen müssen, doch ich konnte ihn kaum spüren. Doch, da war er. Er fühlte sich an wie der Puls, wenn man ihn im Liegen misst, vielleicht 60, 70 Schläge pro Minute. Bis dahin glaubte ich, bereits ziemlich flott unterwegs gewesen zu sein, aber dann merkte ich, dass ich noch schneller laufen konnte. Viel schneller. Versuch’s.
    Ich gab Vollgas und rannte, als hätte ich ein Baby in einem brennenden Gebäude weinen gehört. Es war wie fliegen. Wie fliegen und trotzdem noch die Erde berühren. Die schwarze Wolke über mir platzte und ein Blitz durchschnitt den Himmel wie die glühenden Enden eines Hexenbesens. Regen peitschte mir entgegen, ich raste in die dicken, fetten Tropfen hinein, die seitlich an mir abprallten wie flüssige Schrotkugeln. Ich fühlte mich großartig, überragend.
    Den schnellsten olympischen Läufer hätte ich bereits drei, vier, fünf Mal überrundet. Ich war nicht mehr menschlich, das war übermenschlich. Wie ein Gott.
    Ich begann zu schreien, immer lauter. Irgendwann wurde ich langsamer und blieb neben einer majestätischen Eiche stehen. Ich setzte mich darunter und sah zu, wie der Regen hinunterprasselte. Dann sah ich auf meinem Handy nach, wie spät es war. Mehr als dreißig Minuten war ich so schnell gelaufen.
    Am folgenden Morgen bewegte ich mich durch die Schule wie in einem Trancezustand. Um mich herum trafen die anderen noch schläfrig zur ersten Stunde ein, warfen ihre Bücher auf den Tisch und unterhielten sich über das Wochenende. Aus dem Lautsprecher an der Wand plärrte die übliche Begrüßung: »Was für einen wunderbaren Tag wir heute haben!« Darauf folgten die üblichen Ankündigungen, bei denen ich kaum zuhörte. Nur mein Körper war anwesend, mein Geist war noch auf dem Sportplatz und flog dahin.
    Die Wahrheit ist, dass ich nicht wusste, ob ich überhaupt noch hierher gehörte.
    Zu was wurde ich? Würde es aufhören oder immer weitergehen? Ich blickte auf meine Handflächen. Alle Linien verliefen wie immer, genauso wie ich es in Erinnerung hatte. Und dennoch war ich etwas Anderes, Unerhörtes. Vielleicht eine genetische Anomalie? Eine Art neuer Mensch? Jede andere Möglichkeit erlaubte ich mir gar nicht zu denken.
    Nach der Mittagspause probten wir die Abriegelung der Schule. Wir löschten das Licht, schlossen die Türen zu den Klassenzimmern und taten so, als liefe ein Amokläufer frei durch die Gänge.
    Wir drängten uns im Dunkeln zusammen. Doch ich konnte – oh mein Gott  – jeden Einzelnen an dem geisterhaften blauen Licht erkennen, das er abgab. Ungläubig wandte ich den Kopf von rechts nach links.
    James Wharton küsste D’Shika House und fummelte an ihr herum. Ich konnte D’Shikas glänzende Augen sehen. Sie blinzelte und ihre beiden

Weitere Kostenlose Bücher