Verletzlich
Die Sonnenbrille musste ich allerdings den ganzen Weg aufbehalten.
Am nächsten Tag erhöhte Dr. Peters die Dosis meines Medikaments gegen die Anfälle und ich musste mich einem vollen EEG und einer umfassenden Blutuntersuchung unterziehen. Ein EEG ist ein Elektroenzephalogramm, mit dem die Spannungsschwankungen im Gehirn gemessen werden. Sie markierten meinen Schädel mit einem Alaunstift, befestigten Elektroden an meinem Kopf und leuchteten mir mit Stroboskoplicht in die Augen. Anschließend machten sie noch weitere Tests mit mir, um zu sehen, ob irgendetwas nicht normal war.
Beim Schlaftest schlief ich leider nicht ein, obwohl ich die Nacht davor extra wach geblieben war und mir alte Filme angesehen hatte, während Manda in meinem Schoß schlief. Daraufhin behalf sich Dr. Peters mit der nächstbesten Lösung und klebte mir die Augen zu, was ich als sehr unangenehm empfand. Normalerweise bin ich nicht klaustrophobisch veranlagt, aber wenn mir die Augen zugeklebt werden, kann ich es aus irgendeinem Grund kaum ertragen.
Die Werte waren normal. Na ja, normal für jemanden mit Epilepsie. Meine Augen hingegen waren nach wie vor »außerordentlich lichtempfindlich«. Die Formulierung stammt von Dr. Peters, nicht von mir. Ich wurde zum Optiker geschickt und bekam eine spezielle Sonnenbrille verschrieben, die ich tragen sollte, bis man wusste, was los war.
In der Schule war die Sonnenbrille ein Hit. Der erste Mitschüler, der mir begegnete, war ein kleiner Idiot namens Robbie Putnam.
»Chic«, sagte er. »Hast du auch einen Stock und eine Blechbüchse dazu bekommen?«
»Nein«, antwortete ich. Wenn es so gewesen wäre, hätte ich ihm beides bereits in einen bestimmten Körperteil gestoßen.
Die Fortbewegung auf Krücken war mühsam und beraubte mich der einzigen Sache, in der ich den anderen überlegen war: meiner physischen Gewandtheit. Zum ersten Mal im Leben machte ich die Erfahrung, wie es war, ungeschickt zu sein, ein Tollpatsch. Ich schlug mit den Krücken gegen Türen, stellte sie zu weit auseinander oder zu eng zusammen, schlug anderen gegen die Schienbeine.
Normalerweise fürchtete ich mich selten, doch als ich zum ersten Mal wieder in den Englischkurs ging, fürchtete ich mich sehr. Gretchen saß drei Tische weiter. Wir hatten einen Brief vom Anwalt ihrer Mutter erhalten, der meine Mutter in Panik versetzt hatte. Arztrechnungen, Verdienstausfälle. Meine Mutter hatte lange mit den Leuten von der Versicherung verhandeln müssen. Jegliches Plus, das ich auf dem Konto meiner Mutter gehabt haben mochte, seit ich in den Bergen von Georgia fast verblutet wäre, bekam einen kräftigen Dämpfer.
Ich hüpfte mit der kleinen Hilfskraft aus der 10. Klasse, die meine Bücher trug, in Ms Roses Unterrichtsraum. Zum Glück war ich früh dran. Gretchen kam nach mir. Ihre Nase war verbunden und sie hatte dicke Ringe unter den Augen. Ihre dunkelblonde Mähne war in einem festen Zopf zusammengebunden.
Los jetzt. Ich zwang mich zu ihrem Tisch zu gehen, bevor sich der Klassenraum füllte. Sie schaute nicht auf.
»Gretchen, es tut mir leid. Was soll ich sagen … es tut mir einfach sehr leid. Was ich getan habe, war … war idiotisch. Dämlich.« Ich hoffte, dass sie etwas sagen würde, was mein neu erwachtes schlechtes Gewissen beruhigen würde, doch sie hielt den Blick gesenkt. »Ich wollte nur, dass du weißt …«
»Lass mich in Ruhe«, fauchte Gretchen.
»Was?«
»Lass. Mich. In Ruhe. Habe ich gesagt.«
Mit eingezogenem Schwanz zog ich mich zurück. Als Ms Rose hereinkam, stolperte sie über meine Krücken.
Die Busfahrt war ein einziger Albtraum. Selten habe ich mich so sehr darauf gefreut, nach Hause zu kommen, wie an jenem Tag. Sobald ich es bis durch die Tür geschafft hatte, warf ich meine Krücken fort, ließ den Rucksack fallen und hüpfte mit der Fernbedienung in der Hand zum Sofa.
»Heute gibt es Käsetoasts«, rief Manda, sprang von Hannah Montana auf und umarmte mich an den Beinen. »Und Linsensuppe.«
»Lecker. Ist Mom schon zu Hause?«
»Heute ist doch Mittwoch, Emma.«
Mittwoch. Ich hatte den Überblick über die Tage verloren. Tagsüber arbeitete meine Mutter für einen Buchhalter und half abends zusätzlich als Kellnerin in einem Restaurant namens Blue Onion aus.
»Darf ich deine Brille mal aufsetzen?«, fragte Manda.
»Klar. Willst du das wirklich sehen?« Ich schaltete auf ein anderes Programm und reichte ihr die Brille. »Aber verbummele sie nicht. Ohne sie bin ich blind, wenn ich
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