Verletzlich
Körper bewegten sich. Einige versuchten absichtlich andere anzurempeln.
Ich fühlte mich unwohl dabei, die anderen zu beobachten, wenn sie davon ausgingen, dass niemand sie sehen konnte. Einige kratzten sich an peinlichen Stellen. Andere popelten in der Nase. Das Schlimmste aber waren die Gesichter. Sobald ich mich an den blauen Nebel gewöhnt hatte, offenbarte sich mir das geheime Gesicht jedes Einzelnen. Ich konnte sehen, was aus ihren öffentlichen Gesichtern wurde, wenn sie in der sicheren Dunkelheit entspannten. Einige wirkten selbstsicher und zufrieden. Andere jagten mir jedoch Angst ein. Sie waren traurig, deprimiert, voller Furcht. Oder überwältigend müde.
Meine Mathelehrerin, Ms Timm – jung, attraktiv und frisch von der Uni –, und Ben Wheland standen direkt nebeneinander. Sie lehnten an einem Tisch vorn im Raum. Ohne sich zu berühren. Ohne sich zu bewegen. Aber so nah, dass ihre Hüften kaum mehr als einen Zentimeter voneinander entfernt waren.
Eine der interessantesten Erkenntnisse während dieser Probeabriegelung war für mich, dass ich genau wusste, wenn wirklich jemand die Schule überfiele, könnte ich einfach rausgehen und ihn aufhalten.
Egal, ob er mit einer Rohrbombe oder einer M-16 bewaffnet wäre, wenn er nicht gerade eine ganze Bande von Schützen bei sich hätte, wäre er gegen mich hilflos. Ich war einfach zu schnell. Ich könnte ihm entkommen und es würde aussehen, als bewegte er sich in Zeitlupe. Dem Amokschützen käme es wahrscheinlich fast vor, als hätte ich die Fähigkeit zu verschwinden und an anderer Stelle wieder aufzutauchen.
Eigentlich konnte ich tun, was ich wollte.
»Emma. Emma!«
»Was?«
Letzte Unterrichtsstunde – Kreatives Schreiben. Ms Walker sah mich an, als erwartete sie etwas von mir. Sie hatte mir bereits vorgeworfen, ich würde die Sonnenbrille ausnutzen, um unbemerkt eine Runde zu schlafen.
»Ihr sollt euch alle einen Partner für den argumentativen Essay suchen. Machst du mit?«
Ich setzte mich aufrechter hin. »Mir ist es egal, mit wem ich das Projekt mache. Kann ich bitte ins Krankenzimmer gehen?«
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Ich weiß nicht, aber ich muss einfach ins Krankenzimmer.«
Wegen meiner Anfälle traute sich Ms Walker nicht, Nein zu sagen. Ich ging am Krankenzimmer vorbei, dann weiter am Sekretariat vorbei und durch den Ausgang. Sauber entkommen .
Den Rest des Tages streunte ich ziellos durch die Stadt. Schließlich setzte ich mich vor der Bücherei auf eine Bank. Für eine Weile versuchte ich an gar nichts zu denken und einfach nur meine Umgebung zu betrachten. Das kleine Backsteinhaus auf der anderen Straßenseite, in dem eine Zahnarztpraxis untergebracht war. Das hohe Gras auf dem leeren Grundstück nebenan. Den Geruch von Frittierfett aus dem McDonald’s ein Stück die Straße hinauf. Ein Marienkäfer, der mir über den Finger kroch. Die Welt kam mir so unglaublich lebendig vor. In einer Art, wie ich es mir nie zuvor hätte vorstellen können. Wunderschön. Und alles schien miteinander verbunden zu sein.
Dann hörte ich etwas … ein Surren und Flattern. Auf der Suche nach der Quelle schaute ich mich um. Dann erblickte ich fast fünfzig Meter entfernt einen Vogel mit blauen Flügelspitzen, der auf dem Ast einer Robinie landete.
Die Flügel. Ich kann die Flügel schlagen hören.
4
Übelkeit
Natürlich machte ich mir darüber Gedanken. Über den Zusammenhang zwischen meinem Unfall in Georgia und dem, was jetzt mit mir geschah. Wenn ich mich doch nur erinnern könnte …
An jenem Abend arbeitete Mom wieder im Blue Onion . Ich hatte Manda vorgelesen und sie ins Bett gebracht. Aber sie war nicht müde. Fünf Minuten, nachdem ich ihr Gute Nacht gesagt hatte, stand sie wieder hinter mir im Wohnzimmer, wo ich vor meinem Mathebuch saß und versuchte mich auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Im Fernsehen lief eine Sendung über Vampirfledermäuse, doch ich verfolgte sie nicht wirklich.
»Ich kann nicht schlafen«, verkündete Manda.
»Wie kommt das?«
Sie sprang auf ihren Lieblingsplatz – meinen Schoß. Das Mathebuch fiel auf den Boden und klappte zu. »Ich muss die ganze Zeit an die blassgrüne Hose aus dem Buch über die Sneetches denken. Niemand steckt darin und trotzdem bewegt sie sich«, jammerte Manda. »Sie kann doch nicht leer sein, Emma! Irgendetwas muss darin sein, sonst kann sie sich doch nicht bewegen, oder?«
Ich seufzte tief. »Das ist nur eine Geschichte, Manda. Du kennst doch Dr. Seuss. Der
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