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Verletzlich

Verletzlich

Titel: Verletzlich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ravensburger
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als müsste ich für meine neuen Fähigkeiten einen schrecklichen Preis bezahlen.
    Ich fühlte mich komplett leer und bekam Schüttelfrost. Meine Mutter wickelte mich in Decken und ich fiel in einen unruhigen, fiebrigen Schlaf. Als ich plötzlich etwas am Bein spürte, zog ich die Decke fort und stellte fest, dass die Wunde an meinem Oberschenkel wieder eitrig und blutig war.
    Vampirfledermäuse krabbelten mir über den ganzen Körper und hüpften von meinen Knien über die Brust auf meinen Kopf. Matt versuchte ich sie zu verscheuchen, doch sie schienen sich nicht darum zu scheren. Sechs von ihnen tranken inzwischen von der Wunde an meinem Bein – wie Kühe aus einem kleinen Teich. In der Sendung war behauptet worden, die Schweine würden nicht merken, dass die Fledermäuse an ihnen saugten. Ich hingegen spürte jeden kleinen Biss und jedes Saugen.
    Eine von ihnen hieb ihre Zähne in meinen Schädel. Ich muss geschrien haben, denn meine Mutter kam herbeigeeilt.
    »Emma! Alles in Ordnung?«
    Sie tupfte mir den Kopf mit einem feuchten Lappen ab und telefonierte mit dem Notarzt. Er empfahl ihr, mir die doppelte Menge der empfohlenen Dosis Paracetamol zu geben. Wir hatten das Medikament nur als Saft, den ich sofort wieder erbrach. Der Fleck auf dem Teppich sah aus wie frisches Blut.
    Stunden später ging das Fieber zurück und meine Mutter ließ mich allein. Als ich aufwachte, war mein Bett vollkommen nass geschwitzt und das Zimmer seltsam kühl. Jedes Detail konnte ich deutlich erkennen: meinen Nachttisch mit der Glasplatte, die Eichenkommode, den Stapel sauberer Wäsche auf einem Stuhl, meinen Schrank mit dem Poster von David Beckham in seinem weiß-gelben Trikot der Los Angeles Galaxy , die quadratischen Scheiben in meinem Fenster. Dahinter warf eine Lampe vom Parkplatz rötliches Licht durch die dünnen, weißen Vorhänge. Und plötzlich konnte ich mich erinnern.
    Ein Mann in einem Baum. Eine große, schwarze Gestalt, ungefähr zehn Meter über dem Boden. Breitbeinig stand er mit seinen langen Beinen auf zwei Ästen, die viel zu dünn wirkten, um sein Gewicht zu halten. Die Augen waren geöffnet und die Arme vor der Brust verschränkt wie bei einem aufgebahrten Leichnam.
    Ich stand da und sah ihn an, während mir das Blut in den Adern gefror. Ich wollte weglaufen. Unbedingt rennen. Ich begann sogar die Beine zu bewegen. Bis der Mann auftauchte. Unvermittelt tauchte er vor mir aus dem Nichts auf.
    Ich wich zurück und ließ dabei die Taschenlampe fallen. Instinktiv hob ich schützend die Arme. Der Mann stand breitschultrig vor mir. Die Lampe lag zwischen uns und leuchtete zu seiner Brust hinauf. Er hatte ein fleckiges, weißes, altmodisch aussehendes Leinenhemd an, das in der Mitte mit etwas geknöpft war, das aussah wie kleine Korkstückchen. Dazu trug er Hosen mit Bügelfalte und einen breiten Gürtel. Außerdem einen knielangen Mantel, den man sich bei einem Cowboy im Winter hätte vorstellen können. Er war schmutzig, aber der Mantel ließ ihn dennoch elegant aussehen. Sein Gesicht …
    »Willkommen«, sagte er.
    Ich begann in Richtung des Autos zu rennen, kämpfte mich strauchelnd den Hang hinauf. Der Mann mit dem Mantel blieb, wo er war. Ich war bereits nah genug, um von den Scheinwerfern geblendet zu werden. So schnell ich konnte, hastete ich auf den kleinen Bach zu …
    Der Mann stand bereits zwischen mir und dem Auto. Ich hatte keine Ahnung, wie er dort so schnell hingekommen war. Ich hatte nicht einmal gesehen, dass er sich bewegt hatte. Er war plötzlich einfach da.
    Mit voller Wucht schwang ich die Faust in sein furchterregendes Gesicht; im nächsten Moment umschlossen seine langen Finger meinen Unterarm. Wieder hatte ich nicht gesehen, wie er sich bewegt hatte. Ich versuchte mich zu befreien, doch sein Griff blieb fest. Seine Fingernägel waren unnatürlich lang und schnitten in meine Haut, während ich mich wehrte. Mit dem nackten Fuß holte ich aus und versetzte ihm einen so kräftigen Tritt gegen das Schienbein, dass es hätte brechen müssen. Lachend warf er mich zu Boden.
    Er kniete sich neben mich und schob seinen ekelerregenden Mund dicht an meinen heran. Die schwarzen Augen funkelten im Licht der Scheinwerfer. Seine Haut war glatt und wirkte fast durchsichtig. Irgendetwas an seinem Kopf war grausam falsch; wie ein Stück Schale hing ein Fleischlappen daran herunter. Ich fühlte mich an die Bilder von John F. Kennedy nach der Obduktion erinnert, die ich einmal gesehen hatte. Der Lappen

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